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Während sie die Namen aussprach, ließ Horner Dees seinen Blick von einem zum anderen gleiten und musterte schnell ihre Gesichter. Er verweilte nur einmal – so kurz, daß Walker zunächst nicht sicher war, ob er überhaupt innegehalten hatte – auf Pe Ell.

»Es sind Menschen«, sagte er dann. »Uhl Belk ist mehr als das. Man kann ihn nicht töten wie einen gewöhnlichen Menschen. Ihr werdet ihn vermutlich nicht einmal finden. Er wird euch finden, und dann ist es zu spät.« Er schnippte mit den Fingern und lehnte sich zurück.

Quickening musterte ihn über den Tisch hinweg, dann streckte sie impulsiv die Hand aus und legte sie auf die hölzerne Tischplatte. Eine Span löste sich, rollte sich auf, bildete einen schlanken Stiel, bekam Blätter und erblühte schließlich mit zarten, blauen Glockenblümchen. Quickenings Lächeln war so magisch wie ihre Berührung. »Zeig uns den Weg nach Eldwist, Horner Dees«, sagte sie.

Der alte Mann befeuchtete seine Lippen. »Es braucht mehr als Blümchen, um Uhl Belk beizukommen«, meinte er.

»Vielleicht nicht«, flüsterte sie, und Walker hatte den Eindruck, daß sie für einen Augenblick ganz woanders war. »Hättest du nicht Lust, mit uns zu kommen und es mit eigenen Augen zu sehen?«

Dees schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so alt geworden, indem ich mich töricht benommen habe«, erklärte er. Er überlegte einen Moment, dann beugte er sich wieder vor. »Es ist zehn Jahre her, seit ich nach Eldwist gegangen bin. Ich entdeckte es geraume Zeit vorher, aber ich wußte, daß es gefährlich war, und wollte nicht alleine gehen. Aber ich dachte immer wieder daran und fragte mich, was dort wohl sein mochte, denn es ist meine Art, Sachen auf den Grund zu gehen. Ich bin Fährtensucher gewesen, Soldat, Jäger, alles, was es so gibt, und alles diente am Ende dazu, herauszufinden, was was ist. Ich dachte also dauernd über Eldwist nach, fragte mich, was es dort in allen diesen Gebäuden, all diesem Stein, wo das Auge auch hinblickt, wohl gäbe. Am Ende ging ich wieder hin, weil es mir unerträglich war, nicht Bescheid zu wissen. Ich nahm ein Dutzend Männer mit. Dreizehn sollten uns Glück bringen. Wir dachten, wir würden dort etwas von Wert finden, an einem so geheimen, uralten Ort. Wir wußten, wie er hieß; im Hochland hatte es Legenden darüber gegeben, drüben, auf der anderen Seite des Gebirges, wo einige von uns gewesen waren. Die Trolle kennen es. Es ist eine Halbinsel – nur eine schmale Landzunge, nichts als Felsen, die in den Gezeitenstrom hinausragen. Eines Morgens gingen wir hin, alle dreizehn. Voller Leben. Bei Anbruch des nächsten Tages waren die anderen zwölf tot, und ich rannte wie ein verängstigtes Reh davon!«

Er ließ die Schultern hängen. »Ihr wollt dort nicht hingehen«, sagte er. »Ihr wollt nichts mit Eldwist und Uhl Belk zu tun haben.«

Er hob seinen Krug auf, leerte ihn und setzte ihn lautstark wieder ab. Das Geräusch ließ den Wirt sofort herbeikommen, einen neuen Bierkrug in der Hand, und ebenso schnell wieder verschwinden. Dees schaute ihn nicht ein einziges Mal an, sein Blick war noch immer auf Quickening gerichtet. Es ging schon auf Mitternacht zu, doch nur wenige der Bierhauskunden waren fortgegangen. Sie hockten in Gruppen zusammen, wie sie es seit Sonnenuntergang getan hatten, manche sogar schon länger, ihre Unterhaltungen waren flüssiger und weniger zusammenhängend, ihre Haltung entspannter. Die Zeit war ihnen für den Moment unwichtig geworden, sie waren die Opfer aller Arten von Hader und Mißgeschick, Flüchtlinge, die sich im Schutz ihres Rausches und ihrer zufälligen Gemeinsamkeit zusammendrängten. Dees gehörte heute nicht zu ihnen; Walker Boh zweifelte, ob er das je tat.

Quickening rührte sich. »Horner Dees.« Sie sagte seinen Namen, als untersuche sie ihn, ein junges Mädchen, das die Identität eines alten Mannes testet. »Wenn du nichts unternimmst, wird Uhl Belk dich holen kommen.«

Zum ersten Mal sah Dees erschreckt drein.

»Irgendwann wird er kommen«, fuhr Quickening mit freundlicher, trauriger Stimme fort. »Er weitet sein Königreich über seine Grenzen hinweg aus, und im Lauf der Zeit wächst es immer schneller. Wenn er nicht aufgehalten wird, wenn seine Macht nicht eingeschränkt wird, wird er dich früher oder später erreichen.«

»Dann bin ich lange tot«, sagte der alte Mann, aber er klang nicht überzeugt.

Quickening lächelte wieder ihr magisches Lächeln, vollkommen und wundersam. »Es gibt Geheimnisse, die du niemals lösen wirst, weil du keine Gelegenheit dazu bekommst«, sagte sie. »Bei Uhl Belk ist das nicht der Fall. Du bist ein Mann, der sein Leben lang Dingen auf den Grund gegangen ist. Willst du damit jetzt aufhören? Wie willst du wissen, wer von uns in bezug auf Uhl Belk recht hat, wenn du nicht mit uns gehst? Tu es, Horner Dees. Zeig uns den Weg nach Eldwist. Reise mit uns.«

Dees schwieg lange und dachte nach. Dann sagte er: »Ich würde gerne glauben, daß dieses Monster durch irgend etwas überwunden werden kann …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«

»Mußt du es denn vorher wissen?« fragte das Mädchen leise.

Dees runzelte die Stirn, dann lächelte er ein breites, zahnlückiges Grinsen, das sein wettergegerbtes Gesicht in tiefe Runzeln kräuselte. »Das war mir nie wichtig«, sagte er lachend. Dann verschwand das Lächeln. »Es ist eine schwere Reise, von der hier die Rede ist, nicht ein Spaziergang die Straße entlang. Die Pässe sind zu allen Jahreszeiten hart, und wenn wir einmal drüben sind, sind wir auf uns selbst angewiesen. Dort gibt’s keinerlei Hilfe. Nichts als Trolle, und die scheren sich einen Dreck um Fremde. Dort müssen wir uns selber helfen. Um die Wahrheit zu sagen, keiner von euch sieht stark genug aus, um das zu bewältigen.«

»Wir sind vielleicht stärker, als du denkst«, sagte Morgan Leah leise.

Dees musterte ihn kritisch. »Das werdet ihr sein müssen«, sagte er, »ein ganzes Stück stärker.« Dann seufzte er. »Tja nu. Soweit kommt es also, was? Ich alter Mann soll also noch einmal in die Ferne ziehen.« Er kicherte leise und schaute dann wieder zu Quickening. »Du hast so eine Art, das muß ich schon sagen. Kannst reden, daß eine Nuß aus ihrer Schale schlüpft. Selbst eine harte, alte Nuß wie ich. Tja, tja.«

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er wirkte im Stehen noch größer, als man im Sitzen vermutet hätte, wie eine zerfurchte Mauer, die selbst nach Jahren der Verwitterung nicht stürzen will. Er stand gebeugt und ergraut vor ihnen, seine kräftigen Arme hingen locker herunter, und er kniff die Augen zusammen, als würde er geblendet.

»Also gut, ich führe euch«, verkündete er und lehnte sich dabei vor, um seiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen. Er sprach leise und gleichmütig. »Ich führe euch, weil es stimmt, daß ich noch nicht alles gesehen und die Antworten noch nicht alle gefunden habe, und wozu ist das Leben gut, wenn man es nicht weiter versucht – auch wenn ich nicht glaube, daß es reicht, es zu versuchen. Bei Sonnenaufgang treffen wir uns wieder hier, und ich gebe euch eine Liste, was ihr braucht und wo ihr es bekommt. Ihr sorgt dafür, alles zusammenzutragen, ich übernehme die Organisation. Wir versuchen’s mal. Wer weiß? Vielleicht schafft es auch der eine oder andere von uns wieder zurück.«

Er hielt inne und schaute sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Ein Anflug von Lachen begleitete seine Worte, als er sagte: »Wäre es nicht ein guter Witz, wenn sich herausstellte, daß ihr wirklich die stärkere Magie besitzt als Belk?«

Dann kam er hinter dem Tisch hervor, watschelte durch den Saal zur Tür und verschwand in der Nacht.

13

Horner Dees hielt Wort und traf sie am frühen Morgen, um die Vorbereitungen für die Reise zu leiten, die sie über das Charnalgebirge nach Eldwist führen würde. Er erwartete sie an der Tür der Herberge, in der sie sich für die Nacht eingemietet hatten, einem knarrenden zweistöckigen Rasthaus, das in früheren Zeiten einmal eine Residenz und dann ein Laden gewesen war. Er gab sich nicht damit ab, ihnen zu erklären, wie er sie gefunden hatte, sondern lieferte ihnen eine Liste von Dingen, die sie brauchen würden, und Anweisungen, wo sie sie erhalten konnten. Er wirkte noch zerzauster und bärenhafter als am Vorabend, breiter als die Tür, vor der er stand, und vornübergebeugt wie eine aufgeplusterte Urwaldstaude. Er murrte und brummte, und seine Anweisungen klangen, als litte er darunter, am Vorabend zu viel getrunken zu haben. Pe Ell hielt ihn für einen unnützen Trunkenbold, und Morgan Leah fand ihn ganz einfach höchst unangenehm. Da sie sehen konnten, daß Quickening es von ihnen erwartete, nahmen sie die Anweisungen wortlos entgegen. Aber Walker Boh sah etwas anderes. Zuerst hatte er sich in der vergangenen Nacht wegen Dees genug Sorgen gemacht, um Quickening beiseite zu nehmen, nachdem der alte Mann fortgegangen war, und ihr anzudeuten, daß er vielleicht doch nicht der Mann wäre, nach dem sie suchten. Was wußten sie schließlich über Dees außer dem, was er ihnen erzählt hatte? Falls er tatsächlich nach Eldwist gekommen war, dann lag das zehn Jahre zurück. Und wenn er inzwischen den Weg vergessen hatte? Wenn er sich gerade so weit erinnerte, daß sie sich hoffnungslos verirrten? Aber Quickening hatte ihn in der ihr eigenen Weise beruhigt und allen Zweifel darüber beiseite geräumt, ob Horner Dees tatsächlich der Mann sei, den sie brauchten. Als er dem alten Fährtensucher jetzt zuhörte, war er geneigt, ihr zuzustimmen. Walker hatte in seinem Leben eine ganze Menge Reisen gemacht, und er wußte etwas von den Vorbereitungen, die vonnöten waren. Es war klar, daß auch Dees es wußte. Bei all seinem groben Gerede und seinem ergrauten Aussehen wußte Horner Dees ganz genau, was er tat.