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Und wenn dies geschah, ahnten sie, würde nicht jeder von ihnen überleben.

Drei Tage später verließen sie Rampling Steep. Sie brachen bei Sonnenaufgang auf, der Himmel dick verhangen mit Wolken, die sich an den Gipfeln rieben und das Licht nicht durchließen. Es roch nach Regen, und der Wind blies scharf und kalt vom Gebirge herunter. Die Stadt schlief noch, als sie hinauszogen, wie ein verängstigtes Tier gegen die Finsternis geduckt, verschlossen und reglos. Ein paar vergessene Öllampen glimmten vor Türen und schimmerten durch Spalten in den Fensterläden, doch die Leute rührten sich nicht. Walker Boh warf einen Blick zurück auf die Ansammlung farbloser Häuser, die ihn an Kassiaschoten erinnerten, hohl und verlassen und faszinierend häßlich.

Mittags begann es zu regnen, und es regnete eine ganze Woche lang. Manchmal wurde es zu einem Nieseln, doch es hörte nie ganz auf. Die Wolken blieben über ihren Köpfen wie festgenagelt, Donner grollten und Blitze zuckten in der Ferne. Sie waren naß, sie froren und sie konnten nichts tun, um ihr Unbehagen zu lindern. Das Vorgebirge war weiter unten bewaldet, doch höher oben war es kahl. Der Wind fegte ungehindert über sie hinweg, und ohne die Sonnenwärme blieb er frostig und kalt. Horner Dees gab einen stetigen Schritt vor, doch die Gruppe kam zu Fuß und mit den Maultieren im Schlepp nicht schnell voran. Nachts schliefen sie im Schutz der Planen, die den Regen abhielten, und sie konnten sich ihrer nassen Kleider entledigen und in Decken hüllen. Doch es gab kein Holz für ein Feuer, und die Nässe blieb. Sie wachten jeden Morgen steif und durchkühlt auf, aßen etwas, weil es nötig war, und drängten weiter.

Nach mehreren Tagen verließen sie die Vorberge, gelangten in das eigentliche Gebirge, und der Weg wurde ungewisser. Die Spur, der sie gefolgt waren, zunächst breit und deutlich zu erkennen, verschwand vollständig. Dees führte sie in ein Labyrinth aus Graten und Schluchten, an Rändern breiter Steilhänge entlang und um massige Felsformationen herum, die die Gebäude von Rampling Steep wie Zwerge hätten erscheinen lassen. Der Abhang wurde gefährlich steil, und sie mußten an jeder Biegung sorgfältig aufpassen, wohin sie ihre Füße setzten. Die Wolken drückten sich tiefer, füllten die Luft mit einer durchdringenden Feuchtigkeit und umschlängelten die Felsen wie riesige, substanzlose Würmer, deren Haut aus feuchtem Dampf bestand. Donner krachte, und es war, als befänden sie sich mittendrin. Der Regen prasselte ohne Unterlaß. Sie verloren jegliche Sicht auf das, was hinter ihnen lag, und sie konnten nicht erkennen, was vor ihnen wartete.

Ohne Dees’ Führung hätten sie sich hoffnungslos verirrt. Das Charnalgebirge verschluckte sie wie ein Ozean einen Kiesel. Alles sah gleich aus. Klippen bildeten unüberwindliche Mauern unter Regen und Nebel, Schluchten stürzten in bodenlose, schwarze Leere, und die Berge dehnten sich als scheinbar unendliche Anhäufung von schneebedeckten Gipfeln, soweit das Auge reichte. Es war so kalt, daß ihnen die Haut gefühllos wurde. Manchmal wandelte sich der Regen in Graupeln oder gar Schnee. Sie hüllten sich in große Umhänge und schwere Stiefel und stapften weiter. Durch all dies hindurch blieb Horner Dees standhaft und sicher, und sie lernten schnell, sich auf seine gewaltige, struppige Gegenwart zu verlassen. Er war im Gebirge zu Hause, zufrieden, trotz des widerwärtigen Klimas und des schwierigen Geländes im Einklang mit sich und der Welt. Er summte vor sich hin, verloren in Träumereien von anderen Zeiten und Orten. Hin und wieder blieb er stehen, um auf etwas hinzuweisen, das ihnen sonst entgangen wäre – es lag ihm daran, daß sie nichts verpaßten. Daß er das Charnalgebirge kannte, war von Anfang an klar; daß er es liebte, wurde sehr bald unübersehbar. Er sprach offen über diese Liebe, über die Mischung aus Wildheit und Heiterkeit, die er hier fand, über die Weite und die Beständigkeit. Seine tiefe Stimme brummte und wankte, als würde sie von Sturm und Wind geschüttelt. Er erzählte, wie das Leben im Charnalgebirge einst gewesen war, und er gab in seinen Geschichten einen Teil von sich selbst preis.

Er konnte sie jedoch nicht bekehren – außer vielleicht Quickening, die sich wie üblich nicht ansehen ließ, was sie dachte. Die drei anderen knurrten nur hier und da und bewahrten im übrigen ein wohlbedachtes Schweigen, während sie einen hoffnungslosen Kampf fochten, die Unbequemlichkeit zu ignorieren. Das Gebirge würde niemals ihre Heimat sein; das Gebirge war nichts als ein Hindernis, das sie überwinden mußten. Sie mühten sich stoisch und warteten darauf, daß die Reise ein Ende nähme.

Das tat sie nicht. Statt dessen ging sie weiter, als wäre sie ein verirrter Hund auf der Suche nach seinem Herrn, den Geruch fest im Sinn, doch abgelenkt von anderen Gerüchen. Der Regen ließ nach und hörte schließlich auf, doch die Luft blieb eisig, der Wind peitschte sie nach wie vor, und das Gebirge zog sich hin. Die Männer, das Mädchen und die Tiere stapften weiter, geschüttelt und gerüttelt vom Wetter und dem Gelände. Als die zweite Woche zur Hälfte um war, sagte Dees, daß sie jetzt den Abstieg begännen, doch nichts ließ erkennen, ob es tatsächlich der Fall war, nichts an den Felsen und dem Gestrüpp um sie herum wies darauf hin. Wo auch immer sie hinschauten, das Charnalgebirge war noch immer überall.

Nach zwölf Tagen gerieten sie hoch oben auf einem Paß in einen Schneesturm und kamen beinahe ums Leben. Der Sturm kam so unerwartet, daß selbst Dees von ihm überrascht wurde. Hastig seilte er sie aneinander, und da auf dem Paß kein Schutz zu finden war, mußten sie weiterziehen. Die Luft wurde undurchdringlich weiß und alles rundum verschwand. Füße und Hände erstarrten ihnen. Die Maultiere gerieten in Panik, als ein Teil des Hanges ins Rutschen geriet, schrien und stolperten an den verzweifelten Menschen vorbei, bis sie überrollt wurden, abstürzten und verloren waren. Nur eines konnte gerettet werden, und es trug keine Nahrungsmittel.

Sie fanden einen Unterschlupf, überlebten den Sturm und zogen weiter. Selbst Dees, der sich als der ausdauerndste von ihnen erwiesen hatte, begann zu ermüden. Das übriggebliebene Maultier mußte am nächsten Tag notgeschlachtet werden, nachdem es in eine schneebedeckte Spalte geraten war und sich ein Bein gebrochen hatte. Die Wetterausrüstung war verlorengegangen, und sie hatten nur noch ihre Rucksäcke, in denen sich ein paar magere Nahrungsmittel und etwas Wasser, ein paar Seile und nicht viel anderes befanden.

In jener Nacht sackte die Temperatur ab, und sie wären erfroren, hätte Dees nicht etwas Holz für ein Feuer gefunden. Sie hockten die ganze Nacht eng zusammengekauert, drückten sich nah an die Flammen, rieben sich Hände und Füße, redeten, um wach zu bleiben, weil sie fürchteten, daß sie sonst im Schlaf sterben würden. Es war ein seltsames Bild, wie die fünf zwischen den Felsen eng zusammengekauert neben dem kleinen Feuer hockten, nach wie vor auf der Hut voreinander, jeder sich selbst beschützend, und gezwungen, Raum, Zeit und Umstände miteinander zu teilen. Es waren nicht die Worte, die sie verrieten, nicht so sehr, was sie sagten, sondern wie und wann und warum. Es brachte sie einander auf merkwürdige Weise näher, verband sie, wie kaum etwas anderes es vermocht hätte, und obgleich die Nähe eher körperlich als emotional war und sowieso sehr begrenzt, so entstand dennoch ein Gefühl von Gemeinsamkeit, das bis dahin gefehlt hatte.

Danach wurde das Wetter besser, die Wolkendecke brach auf, die Sonne erwärmte die Luft, und Schnee und Regen hörten endlich auf. Die Berge weiteten sich vor ihnen, und jetzt gab es keine Zweifel mehr, daß sie den Abstieg begonnen hatten. Es gab wieder Bäume, zunächst vereinzelt, dann ganze Haine und schließlich Wälder, soweit das Auge reichte bis hinunter in ferne Täler. Sie waren in der Lage, zu fischen und zu jagen, in warmen Baumnischen zu schlafen und trocken und ausgeruht zu erwachen. Die Stimmung besserte sich.