Fünfzehn Tage nachdem sie Rampling Steep verlassen hatten, gelangten sie schließlich zu den Stacheln.
Lange Zeit standen sie auf einer Klippe und schauten ins Tal hinunter. Es war beinahe Mittag, und die Luft duftete süß. Ein breites, tiefes Tal lag im Schatten von Bergen, die es zu beiden Seiten umsäumten. Es war trichterförmig, nach Süden weitete es sich, und im Norden war es eng und verschwand zwischen fernen Hügeln. Bäume standen dicht und üppig am Talboden, doch in der Mitte zog sich eine schroffe Felsenkette entlang, und die Bäume dort hatten bei einem Eissturm ihr Laub verloren, und ihre Stämme und Äste ragten kahl in die Höhe wie das gesträubte Nackenfell eines in die Enge getriebenen Tieres.
Wie Stacheln, dachte Morgan Leah.
Er schaute zu Horner Dees hinüber. »Was gibt’s dort unten?« fragte er. Seine Haltung gegenüber dem alten Fährtensucher hatte sich im Laufe der vergangenen zwei Wochen verändert. Er hielt ihn nicht mehr für einen unangenehmen, alten Mann. Er hatte länger dazu gebraucht als Walker Boh, aber er mußte schließlich auch anerkennen, daß Dees durch und durch Profi war, besser als irgend jemand, dem der Hochländer bislang begegnet war. Morgan wäre gern auch nur halb so gut gewesen. Er hatte angefangen, auf das, was der alte Mann tat und sagte, zu achten.
Dees zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es ist zehn Jahre her, seit ich hier langgekommen bin.« Dees seinerseits gefiel Morgans Enthusiasmus und seine Arbeitswilligkeit. Er mochte es, daß Morgan sich nicht fürchtete, etwas zu lernen. Nachdenklich runzelte er die Stirn, als er den Blick des anderen erwiderte. »Ich bin nur vorsichtig, Hochländer.«
Sie betrachteten das Tal eine Weile.
»Da unten ist etwas«, sagte Pe Ell leise.
Keiner widersprach ihm. Pe Ell war der Zurückhaltendste von ihnen geblieben, doch sie kannten ihn inzwischen gut genug, um seinem Instinkt zu trauen.
»Wir müssen hier hinuntergehen«, sagte Dees schließlich, »oder auf dieser oder der anderen Seite dem Gebirge folgen. Wenn wir das tun, verlieren wir eine ganze Woche.«
Für geraume Zeit fuhren sie fort, schweigend das Gelände zu betrachten, und jeder überdachte die Angelegenheit für sich, bis Horner Dees schließlich sagte: »Laßt uns weitergehen.«
Sie begannen den Abstieg und entdeckten einen Pfad, der direkt nach unten in die Mitte des Tals zu dem kahlen Riff führte. Sie bewegten sich leise, Dees ging voran, gefolgt von Quickening; Morgan, Walker und Pe Ell bildeten die Nachhut. Sie verließen den sonnenbeschienenen Teil, gelangten in den Schatten, und die Luft wurde kühl. Das Tal kam ihnen entgegen und verschlang sie für eine Weile. Dann führte der Pfad sie auf das Felsenriff, und sie kamen zu den kahlen Bäumen. Morgan untersuchte die leblosen Skelette, die Schwärzung der Rinde, die verwelkten Blätter und Knospen, wo es noch welche gab, und wandte sich instinktiv zu Walker. Der Dunkle Onkel hob sein blasses Gesicht und starrte ihn mit seinen kalten Augen an. Sie dachten beide das gleiche. Die Stacheln waren von derselben Krankheit befallen wie das übrige Land. Auch hier waren die Schattenwesen am Werk. Sie überquerten den sonnigen Streifen, wo die Sonne durch eine Lücke zwischen den Gipfeln schien, und stiegen wieder abwärts in eine Niederung. Es war ungewöhnlich still hier, eine Stille, die die Geräusche ihrer Schritte zu verstärken schien, während sie vordrangen. Morgan war zunehmend nervös geworden. Er dachte an seine Begegnung mit den Schattenwesen auf der Reise nach Culhaven mit den Ohmsfords. Seine Nase prüfte die Luft nach dem ranzigen Gestank, der ihre Gegenwart anzeigen würde, und er lauschte auf die winzigsten Geräusche. Dees ging zielstrebig weiter, Quickenings langes Haar wehte silbrig hinter ihr her. Keiner der beiden zeigte auch nur einen Anflug von Zögern. Doch sie standen alle unter Spannung, Morgan spürte es.
Sie stiegen aus der Niederung wieder zum offenen Riff hinauf. Eine Weile waren sie hoch genug über den Bäumen, so daß Morgan das Tal von einem Ende bis zum anderen überblicken konnte. Sie hatten schon mehr als den halben Weg zurückgelegt und näherten sich dem schmalen Ende des Trichters, wo die Berge sich teilten und die Bäume zu dem dahinterliegenden Hügelland hin spärlicher wurden. Morgans Nervosität löste sich langsam, und er mußte an zu Hause denken, an das Hochland von Leah, an die Landschaft, wo er aufgewachsen war. Er vermißte das Hochland, stellte er fest – viel mehr, als er erwartet hätte. Es war eine Sache, sich zu sagen, daß seine Heimat ihm nicht mehr gehörte, da die Föderation sie besetzte; es war etwas anderes, sich selbst dazu zu bringen, es auch zu glauben. Wie Par Ohmsford lebte er mit der Hoffnung, daß sich die Dinge eines Tages wieder ändern würden.
Der Pfad führte wieder abwärts und eine weitere Niederung tat sich auf, diese hier voller Gestrüpp und Unterholz, das die Lücken zwischen den inzwischen abgestorbenen Bäumen ausgefüllt hatte. Sie gingen hinein, bahnten sich den Weg durch Dornsträucher und Klebranken zu dem freieren Gelände, wo der Pfad sich weiterschlängelte. Die Niederung lag in tiefem Schatten, und das Licht kroch langsam westwärts. Die Wälder rundum bildeten eine Mauer dunklen Schweigens.
Sie waren gerade auf eine Lichtung in der Mitte der Niederung gelangt, als Quickening plötzlich stehenblieb. »Seid still!« warnte sie.
Sie gehorchten augenblicklich, schauten erst zu ihr und dann auf das Gestrüpp rundum. Etwas regte sich. Gestalten lösten sich langsam aus ihren Verstecken und bewegten sich ins Licht. Hunderte von ihnen – kleine, stämmige Gestalten mit haarigen, knorrigen Gliedmaßen und knochigen Gesichtern. Sie sahen aus, als seien sie aus dem Gestrüpp herausgewachsen, so sehr glichen sie der Vegetation, und nur die kurzen Hosen und die Waffen schienen den Unterschied auszumachen. Die Waffen waren furchterregend – kurze Speere und seltsam geformte Wurfgeräte mit rasierklingenscharfen Kanten. Die Geschöpfe hielten sie drohend in die Höhe, während sie sich näherten.
»Urdas«, sagte Dees leise. »Rührt euch nicht.«
Niemand muckste, nicht einmal Pe Ell, der sich in sehr ähnlicher Weise duckte wie die Kreaturen, die ihn bedrohten.
»Wer sind sie?« fragte Morgan und schob sich beschützend vor Quickening.
»Gnome«, erwiderte Dees. »Mit ein bißchen Trollblut dabei. Keiner kennt die genaue Mischung. Man findet sie nirgendwo südlich des Charnalgebirges. Sie sind Nordländer wie die Trolle. Stammesgruppen wie die Gnome. Äußerst gefährlich.«
Die Urdas waren jetzt rund um sie herum, so daß an Flucht nicht zu denken war. Sie hatten kräftige, muskulöse Körper mit kurzen, starken Beinen und langen Armen, und ihre Gesichter waren starr und ausdruckslos. Morgan versuchte, in ihren gelben Augen zu lesen, was sie dachten, doch es gelang ihm nicht.
Dann bemerkte er, daß sie alle auf Quickening schauten.
»Was sollen wir tun?« flüsterte er Dees besorgt zu.
Dees schüttelte den Kopf.
Die Urdas näherten sich auf wenige Meter und blieben stehen. Sie drohten nicht, sie sagten nichts. Sie standen nur da, musterten Quickening und warteten.
Was erwarten sie? dachte Morgan.
Fast im selben Augenblick teilte sich das Gestrüpp, und ein goldblonder Mann trat hervor. Sofort ließen sich die Urdas auf ein Knie sinken und beugten ehrfurchtsvoll die Köpfe. Der goldblonde Mann schaute die fünf belagerten Mitglieder der umzingelten Gruppe an und lächelte.
»Der König ist gekommen«, sagte er strahlend. »Lang lebe der König.«
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»Würdet ihr bitte eure Waffen niederlegen?« rief ihnen der Mann fröhlich zu. »Legt sie einfach vor euch auf den Boden. Keine Angst. Ihr könnt sie gleich wieder aufheben.« Er begann zu singen: