»Das war schon wesentlich besser, nicht wahr?« fragte er sie, und seine blauen Augen hüpften von einem Gesicht zum anderen und warteten eifrig auf Beifall.
»Ein Reimeschmied bist du also, hm?« brummte Horner Dess. »Und aus Rampling Steep?«
»Nun, auf dem Weg über Rampling Steep. Ich habe dort vor einigen Jahren ein oder zwei Tage haltgemacht.« Carisman schaute ein wenig einfältig drein. »Das Singen wirkt, also benutze ich es.« Seine Miene hellte sich auf. »Aber ein Reimeschmied, ja. Mein ganzes Leben. Ich bin zum Singen begabt, und ich bin klug genug, es zu nutzen. Ich bin begabt.«
»Aber warum bist du hier, Carisman?« drängte Quickening.
Carisman schmolz dahin. »Lady, der Zufall hat mich an diesen Ort und zu dieser Zeit und sogar zu der Begegnung mit dir gebracht. Ich habe den größten Teil der Vier Länder durchwandert und nach Liedern gesucht, die meiner Musik Flügel verleihen. Ich habe eine Rastlosigkeit in mir, die mich an keinem Ort lange verweilen läßt. Ich hätte oft genug Gelegenheit gehabt, es zu tun, und es gab sogar Damen, die mich gerne bei sich behalten hätten – auch wenn keine so schön war wie du. Aber ich zog immer weiter. Ich wanderte zunächst nach Westen, dann nach Osten und schließlich nach Norden. Ich gelangte nach Rampling Steep und fragte mich, was wohl dahinter liegen mochte. Schließlich machte ich mich auf den Weg über das Gebirge, um es herauszufinden.«
»Und hast überlebt?«
»Haarscharf. Ich habe ein Gespür für Dinge; ich nehme an, das liegt an meiner Musik. Ich war gut vorbereitet, denn ich war auch zuvor schon durch rauhes Land gereist. Ich fand den Weg, indem ich auf mein Herz lauschte. Ich hatte Glück, daß das Wetter mir hold war. Als ich schließlich herübergekommen war – erschöpft und nahe am Verhungern, das gebe ich zu –, fanden mich die Urdas. Weil ich nicht wußte, was ich sonst tun sollte, sang ich ihnen etwas vor. Sie waren von meiner Musik verzaubert und machten mich zu ihrem König.«
»Verzaubert von Limericks und holprigen Reimen?« Dees weigerte sich, seine Skepsis aufzugeben. »Eine gewagte Behauptung, Carisman.«
Carisman grinste jungenhaft. »Oh, ich behaupte nicht, besser zu sein als irgendwer sonst.«
Er sang wieder:
Er schob die Angelegenheit beiseite. »Jetzt eßt erst einmal etwas. Ihr müßt sehr hungrig sein nach eurer Reise. Es gibt so viel zu essen und zu trinken, wie ihr wollt. Und erzählt mir, was euch hergeführt hat. Niemand aus dem Südland kommt so weit nach Norden – nicht einmal die Fallensteller. Ich bekomme niemanden zu Gesicht, außer Trollen und Gnomen. Was führt euch her?«
Quickening berichtete ihm, daß sie auf der Suche nach einem Talisman seien. Das war mehr, als Morgan verraten hätte, doch es schien Carisman wenig zu interessieren. Er fragte nicht einmal, was für ein Talisman es sei und wozu sie ihn brauchten. Er wollte nur wissen, ob Quickening ihm ein paar neue Lieder beibringen könne. Carisman war schnell und intelligent, doch sein Interesse war weltfremd und sehr begrenzt. Er war wie ein Kind, neugierig, leicht abzulenken und voller Staunen über die Welt. Er schien die Anerkennung wahrhaftig zu brauchen. Quickening war am entgegenkommendsten, also konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf sie und schloß die anderen im Gespräch eher stillschweigend mit ein. Morgan hörte mit halbem Ohr zu, während er aß, und bemerkte dann, daß Walker überhaupt nicht hinhörte, sondern die Urdas unterhalb der Plattform beobachtete. Morgan begann sie seinerseits zu beobachten. Nach einer Weile fiel ihm auf, daß sie sich deutlich in Gruppen zusammengesetzt hatten und daß die zuvorderst sitzende Gruppe aus jüngeren und älteren Männern bestand, denen alle anderen Ehrfurcht zollten. Häuptlinge, dachte Morgan sofort. Sie redeten eindringlich miteinander, warfen hin und wieder einen Blick zu den sechs auf der Plattform, ignorierten sie sonst jedoch. Irgend etwas wurde beschlossen, ohne Carisman.
Morgan wurde nervös.
Die Mahlzeit endete, und die leeren Teller wurden abgetragen. Dann begannen die Urdas anhaltend zu klatschen, und Carisman erhob sich mit einem Seufzer. Er begann wieder zu singen, doch diesmal war das Lied anders. Diesmal war es ausgefeilt und kompliziert, ein sorgfältig gewobenes Musikstück voller Nuancen und Subtilitäten, die die Melodie variierten. Carismans Stimme füllte die Luft, sie ergriff und trug alles davon, was den Sinnen im Wege stand, tauchte hinein in den Körper und umschlang und liebkoste das Herz. Morgan war verwundert. Er war noch nie so ergriffen worden – nicht einmal von der Musik des Wunschliedes. Par Ohmsford konnte in seinem Lied das Gefühl und den Sinn der Geschichte erwecken, doch Carisman berührte die Seele.
Als der Sänger geendet hatte, herrschte absolute Stille. Langsam setzte er sich wieder, für einen Augenblick nach innen gekehrt, noch immer gefangen in dem, was er gesungen hatte. Dann fingen die Urdas an, zum Applaus mit den Händen auf ihre Knie zu trommeln.
»Das war wundervoll, Carisman«, sagte Quickening.
»Vielen Dank, Lady«, erwiderte er, wieder verlegen. »Mein Talent ist größer als nur Limericks, nicht wahr.«
Das silberhaarige Mädchen schaute plötzlich Walker an. »Hat es dir gefallen, Walker Boh?«
Sein blasses Gesicht neigte sich nachdenklich. »Es macht mich wundern, warum jemand mit solchen Fähigkeiten sie mit so wenigen teilen will.« Seine dunklen Augen fixierten Carisman.
Der Reimeschmied wand sich unbehaglich. »Nun.« Die Worte schienen plötzlich nicht über seine Lippen kommen zu wollen.
»Insbesondere, weil du selbst gesagt hast, daß du von einer Rastlosigkeit bist, die dir nicht gestattet, an einem Ort zu bleiben. Und doch bleibst du hier unter den Urdas.«
Carisman schaute auf seine Hände.
»Sie lassen dich nicht gehen, nicht wahr?« sagte Walker ruhig.
Carisman sah aus, als wolle er im Erdboden versinken. »Ja«, gab er widerstrebend zu. »Ungeachtet der Tatsache, daß ich ihr König bin, bleibe ich ihr Gefangener. Ich darf König sein, solange ich meine Lieder singe. Die Urdas behalten mich hier, weil sie glauben, daß mein Gesang magisch sei.«
»Und das ist er«, murmelte Quickening so leise, daß nur Morgan, der neben ihr saß, es hören konnte.
»Und wie ist es mit uns?« fragte Dees scharf. Er richtete sich drohend auf. »Sind wir ebenfalls Gefangene? Hast du uns als Gäste oder als Gefangene hergebracht, König Carisman? Oder hast du in dieser Angelegenheit überhaupt etwas zu bestimmen?«
»Oh, nein!« rief der Sänger deutlich bestürzt. »Ich meine, ja, ich habe in der Angelegenheit etwas zu sagen. Und nein, ihr seid keine Gefangenen. Ich muß nur mit dem Rat sprechen, mit jenen Männern, die dort unten zusammensitzen.« Er zeigte auf die Gruppe, die Morgan und Walker beobachtet hatten. Dann zögerte er, als er Pe Ells finsteren Blick sah, und stand hastig auf. »Ich werde sofort mit ihnen sprechen. Ihr sollt nicht länger hierbleiben, als euer Wunsch ist, das verspreche ich. Lady, glaubt mir, bitte, Freunde.«
Er eilte von der Plattform, kniete sich neben die Mitglieder des Urdarates und sprach ernst auf sie ein. Die fünf, die darauf warteten zu erfahren, ob sie Gefangene oder Gäste seien, schauten einander an.
»Ich glaube kaum, daß er irgendwas tun kann, um uns zu helfen«, murmelte Horner Dees.