Pe Ell rückte näher. »Wenn ich ihm ein Messer an die Kehle halte, werden sie uns ganz schnell ziehen lassen.«
»Oder auf der Stelle umbringen«, fauchte Dees.
»Laßt es ihn versuchen«, sagte Walker Boh, der die Versammlung ganz ruhig betrachtete. Sein Gesicht verriet nichts.
»Ja«, stimmte Quickening ihm leise zu. »Geduld.«
Danach saßen sie schweigend da, bis Carisman sich von der Gruppe des Rats trennte und wieder auf die Plattform zurückkam. Sein Gesichtsausdruck sagte ihnen alles. »Ich … ich muß euch bitten, über Nacht zu bleiben«, sagte er und hatte Mühe, die Worte über die Lippen zu bringen, durch und durch unbehaglich. »Der Rat wünscht … hm … die Angelegenheit noch zu debattieren. Nur eine Formsache, müßt ihr verstehen. Ich bitte nur um etwas mehr Zeit …«
Er verstummte. Er hatte sich so weit wie möglich von Pe Ell entfernt aufgestellt. Morgan hielt den Atem an. Er glaubte nicht, daß die Entfernung zwischen den beiden dem Reimeschmied viel Sicherheit gewährte. Er ertappte sich dabei, wie er sich nahezu fasziniert fragte, was Pe Ell tun würde, was er angesichts einer so großen Übermacht überhaupt tun konnte.
Diesmal sollte er es nicht herausfinden. Quickening lächelte beruhigend und sagte: »Wir werden warten.«
Sie wurden in eine der größeren Hütten gebracht, und man gab ihnen Matten und Decken zum Schlafen. Die Tür wurde hinter ihnen zugemacht, aber nicht verschlossen. Morgan glaubte nicht, daß das irgendeinen Unterschied machte. Die Hütte stand in der Mitte des Dorfes, und das Dorf war von Palisaden umzäunt und voller Urdas. Er hatte Dees während des Abendessens über die seltsamen Geschöpfe ausgefragt. Dees hatte ihm berichtet, daß sie ein Jägerstamm waren. Ihre Waffen waren dazu angelegt, auch das flinkste Wild zu erlegen. Zweibeinige Flüchtlinge würden kein großes Problem darstellen.
Pe Ell stand an einer der Lehmwände der Hütte und schaute durch einen Spalt. »Sie werden uns nicht gehen lassen«, sagte er. Niemand sprach. »Egal, was dieser Spielzeugkönig sagt, sie werden versuchen, uns festzuhalten. Wir sollten lieber in dieser Nacht noch verschwinden.«
Dees ließ sich schwer gegen eine Wand sinken. »Du sagst das so, als ob Flucht im Bereich der Möglichkeiten wäre.«
Pe Ell wandte sich um. »Ich kann fliehen, wann immer es mir beliebt. Mich hält kein Gefängnis.«
Er sagte das mit solcher Selbstverständlichkeit, daß ihn alle außer Quickening überrascht anstarrten. Quickening schaute in die Ferne. »In diesen Liedern ist Magie«, sagte sie.
Morgan erinnerte sich, daß sie so etwas schon vorher gesagt hatte. »Echte Magie?« fragte er.
»Ähnlich genug, um den Namen zu verdienen. Ich verstehe ihren Ursprung nicht; ich weiß nicht einmal, was sie ausrichten kann. Aber eine Form von Magie ist es trotzdem. Er ist mehr als ein gewöhnlicher Sänger.«
»Ja«, stimmte Per Ell zu. »Er ist ein Idiot.«
»Das könnten wir auch von dir sagen, wenn du darauf bestehst, daß wir ohne ihn hier wegkommen«, schnaubte Homer Dees.
Pe Ell wirbelte zu ihm herum. In seinem Gesicht stand so heftiger Zorn, daß Dees schneller auf die Füße kam, als Morgan ihm zugetraut hätte. Walker Boh, eine dunkle Gestalt auf der anderen Seite des Raumes, drehte sich langsam um. Pe Ell schien seine Möglichkeiten zu kalkulieren, dann stolzierte er auf Quickening zu, die neben Morgan stand und ihn anschaute. Der Hochländer konnte nichts tun. Pe Ell tat ihn mit einem kaum erkennbaren Blick ab und wandte sich an das Mädchen.
»Wozu brauchen wir die anderen?« zischte er zornig. »Ich bin mitgekommen, weil du mich darum gebeten hast. Ich hätte es auch genausogut lassen können.«
»Das weiß ich«, sagte sie.
»Du weißt, was ich bin.« Sein hageres Habichtgesicht beugte sich näher, sein Körper war angespannt. »Du weißt, daß ich über die Magie verfüge, die du brauchst. Ich habe alle Magie, die du brauchst. Vergiß die anderen. Laß uns alleine gehen.«
Um ihn herum schien es, als habe sich das Zimmer in Stein verwandelt, die anderen waren wie zu Statuen erstarrt, die nur beobachten, aber nicht handeln können. Morgan Leahs Hand rückte ein paar Millimeter in Richtung seines Schwertes und hielt dann inne. Er wäre niemals schnell genug, das wußte er. Pe Ell würde ihn töten, noch ehe er sein Schwert gezogen hätte.
Quickening wirkte völlig furchtlos. »Es ist noch nicht Zeit für dich und mich, Pe Ell«, flüsterte sie mit beruhigender, ungerührter Stimme. Ihre Augen suchten seinen Blick. »Du mußt warten, bis es soweit ist.«
Morgan verstand nicht, was sie damit meinte, und er war einigermaßen sicher, daß es Pe Ell ebenso erging. Sein hageres Gesicht verzerrte sich, seine harten Augen zuckten. Er schien eine Entscheidung zu treffen.
»Mein Vater allein hat die Gabe, in die Zukunft zu schauen«, sagte Quickening leise. »Er hat vorhergesehen, daß ich euer aller Hilfe brauchen werde, wenn wir Uhl Belk finden. So soll es sein – auch wenn du dir wünschst, daß es anders sei, Pe Ell. Trotzdem.«
Pe Ell schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Mädchen. Du irrst dich. Es wird sein, wie ich es will. So wie immer.« Er musterte sie eine Weile und zuckte dann mit den Achseln. »Wie auch immer, was macht es schon? Noch einen Tag, eine Woche, es kommt alles auf dasselbe heraus. Nimm die anderen mit, wenn du willst. Für den Moment jedenfalls.«
Er wandte sich ab und zog sich in eine dunkle Ecke zurück.
Die anderen schauten schweigend zu.
Die Nacht fiel ein, und das Urdadorf wurde still. Die Einwohner gingen schlafen. Die fünf aus Rampling Steep legten sich in ihrem Unterschlupf nieder, getrennt voneinander durch ihre privaten Grübeleien. Horner Dees schlief. Walker Boh lag als undeutliches Bündel reglos da. Morgan Leah saß in der Nähe von Quickening, keiner der beiden sagte etwas, die Augen gegen das fahle Mondlicht, das hereindrang, geschlossen.
Pe Ell beobachtete sie alle und wütete im stillen gegen die Umstände und seine eigene Dummheit.
Was war bloß in ihn gefahren, fragte er sich mürrisch. So aus der Haut zu fahren und damit die Ausführung dessen, was zu erfüllen er mitgekommen war, aufs Spiel zu setzen. Er hielt sich immer unter Kontrolle. Immer! Nur diesmal nicht. Nicht, wenn er sich von Enttäuschung und Ungeduld dazu hinreißen ließ, das Mädchen mit allen ihren kostbaren Schützlingen zu bedrohen wie ein ungezogener Schuljunge.
Er hatte sich wieder beruhigt und war in der Lage, zu analysieren, was er getan hatte, seine Gefühle zu sichten und seine Fehler zu erkennen. Von beiden gab es viele. Und das Mädchen war dafür verantwortlich, das ihn jedesmal wieder auf den Boden zurückbrachte, das war ihm klar. Sie war der Fluch seines Lebens, ein Ärgernis und ein Reiz, die in entgegengesetzter Richtung an ihm zerrten, ein Geschöpf aus Schönheit, Leben und Magie, das er nie würde verstehen können, bis der Moment gekommen wäre, in dem er sie tötete. Sein Verlangen, es endlich zu tun, wuchs mit jedem Tag, und es fiel ihm immer schwerer, sich in Schranken zu halten. Doch dazu war er gezwungen, wenn er in den Besitz des schwarzen Elfensteins gelangen wollte. Die Schwierigkeit lag darin, Mittel und Wege zu finden, seinem Verlangen bis dahin zu widerstehen. Sie entzündete ihn, entflammte ihn und ließ ihn innerlich verknäuelt wie aus dünnem Draht zurück. Alles, was ihm selbstverständlich und unkompliziert vorkam, erschien ihr als das glatte Gegenteil. Sie bestand darauf, daß diese Dummköpfe mitkamen – der Einarmige, der Hochländer und der alte Fährtensucher. Nichtsnutze! Überflüssiger Ballast! Wie lange würde er sie noch ertragen müssen?
Er fühlte, wie der Ärger wieder in ihm aufzuschwellen begann. Geduld. Ihr Wort, nicht seines – aber er tat besser daran, es an sich auszuprobieren.
Er lauschte auf die Geräusche der Urdas draußen, mehr als ein Dutzend Wächter, die im Dunkel um die Hütte herum lauerten. Er konnte sie nicht sehen, doch er spürte ihre Gegenwart. Sein Instinkt sagte ihm, daß sie dort waren. Bislang noch kein Zeichen von dem Sänger – aber das spielte keine Rolle. Die Urdas würden sie nicht gehen lassen.