Wenn die Schweine fliegen lernen, dachte Morgan gnadenlos.
Quickening schien unentschlossen, was gar nicht ihre Art war. Sie schaute Horner Dees fragend an.
»Er hat recht, was die Urdas angeht, die ihn zurückholen würden«, stimmte der alte Fährtensucher zu. »Und uns ebenfalls, wenn wir nicht schnell genug sind. Oder schlau genug.«
Morgan bemerkte, wie Pe Ell und Walker aus entgegengesetzten Ecken der Hütte einander anfunkelten – grausame, finstere Geister aus zwei entgegengesetzten Welten, die sich schweigend und drohend anstarrten. Wer von den beiden würde eine Konfrontation überleben? Und wie konnte ihre Gruppe überleben, solange die beiden so quer miteinander standen?
Und dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Deine Magie, Quickening!« platzte er impulsiv heraus. »Deine Magie kann uns helfen, zu entkommen. Du kannst alles, was auf der Erde wächst, kontrollieren. Das reicht, um die Urdas zu bezwingen. Mit oder ohne Carisman bleibt uns deine Magie!«
Doch Quickening schüttelte den Kopf, und für einen Augenblick schien es, als würde sie sich gleich auflösen. »Nein, Morgan. Wir haben das Charnalgebirge überquert und das Land von Uhl Belk erreicht. Ich darf meine Magie nicht mehr einsetzen, bis wir den Talisman gefunden haben. Der Steinkönig darf nicht entdecken, wer ich bin. Wenn ich meine Magie benutze, erfährt er es.«
Es wurde still in der Hütte. »Wer ist der Steinkönig?« fragte Carisman, und alle Blicke richteten sich auf ihn.
»Ich meine, wir nehmen ihn mit«, sagte Horner Dees unverblümt und zur Sache wie immer. Seine massige Gestalt schob sich herum. »Falls er uns tatsächlich hier rausführen kann, heißt das.«
»Nehmen wir ihn mit«, willigte Morgan ein. Dann grinste er. »Mir gefällt die Vorstellung, einen König in unseren Reihen zu haben – auch wenn er nichts als Lieder zu erfinden weiß.«
Quickening schaute die schweigenden Gegner hinter ihrem Rücken an. Pe Ell zuckte desinteressiert mit den Achseln. Walker Boh sagte gar nichts.
»Wir nehmen dich mit, Carisman«, sagte Quickening, »auch wenn ich nicht daran zu denken wage, was diese Entscheidung dich kosten kann.«
Carisman schüttelte eifrig den Kopf. »Kein Preis ist zu hoch, Lady, ich schwöre es.« Der Sänger strahlte.
Quickening ging zur Tür. »Die Nacht neigt sich ihrem Ende zu. Laßt uns eilen.«
Carisman hob die Hand. »Nicht dort entlang, Lady.« Quickening wandte sich um. »Gibt es einen anderen Weg?«
»Allerdings.« Er grinste schelmisch. »Ich stehe zufällig darauf.«
15
Die Stachelfelsen und das umliegende Land waren von Urdastämmen und anderen Gnomen- und Trollrassen besiedelt. Da sie alle ständig im Krieg miteinander lagen, hatten sie ihre Dörfer befestigt. Im Laufe der Zeit hatten sie viele harte Lektionen gelernt, und eine davon war, daß eine Einfriedung mehr als nur einen Ausgang brauchte. Carismans Leute hatten unter dem Dorf Stollen angelegt, die durch verborgene Falltüren in die Wälder rundum führten. Wenn das Dorf durch eine andauernde Belagerung oder ein zahlenmäßig überlegenes Heer bedroht wurde, blieb den Bewohnern noch immer ein Fluchtweg offen.
Einer der Eingänge zu den Tunneln lag unter dem Boden der Hütte, in denen sich die fünf aus Rampling Steep befanden. Carisman zeigte ihnen, wo er lag, fast einen halben Meter unter dem Lehmboden, und im Laufe der Zeit so fest verschlossen, daß Horner Dees und Morgan alle Kräfte brauchten, um ihn freizulegen. Er war offensichtlich nie benutzt worden und möglicherweise sogar in Vergessenheit geraten. Wie auch immer, es war ein Ausgang, und die Gruppe zögerte nicht, ihn zu benutzen.
»Ich wäre glücklicher, wenn wir ein Licht hätten«, murmelte Dees, als er in die Dunkelheit hinunterschaute.
»Hier«, flüsterte Walker Boh ungeduldig und trat neben ihn. Er ließ sich in das schwarze Loch gleiten, wo die Tunnelwände sein Tun abschirmten, und machte ein Schnalzgeräusch mit seinen Fingern. Seine Hand begann zu leuchten, eine helle Aura, die keine sichtbare Quelle besaß. Dem Dunklen Onkel ist wenigstens ein bißchen von seiner Magie geblieben, dachte Morgan Leah.
»Carisman, gibt es hier unten mehr als nur einen Gang?« Walkers Stimme klang hohl. Der Sänger nickte. »Dann bleib in meiner Nähe und zeig mir, wo es langgeht.«
Einer nach dem anderen ließen sie sich in das Loch gleiten, Carisman direkt hinter Walker, gefolgt von Quickening, Morgan und Dees. Pe Ell bildete die Nachhut. Es war finster in dem Tunnel, trotz Walkers Licht, und die Luft war stickig. Der Stollen führte zunächst geradeaus, dann verzweigte er sich in drei Richtungen. Carisman führte sie nach rechts. Dann verzweigte er sich wieder, und sie gingen nach links. Sie waren weit genug gegangen, dachte Morgan. Sie mußten sich schon außerhalb der Palisaden befinden. Der Tunnel führte noch immer weiter. Baumwurzeln waren durch die Tunnelwände gedrungen, und ihr Gewirr machte das Vorwärtskommen schwierig. An manchen Stellen war das Wurzelwerk so dicht, daß sie es durchschlagen mußten, um zu passieren. Ihr Tun wirbelte so viel Staub und Erde auf, daß das Atmen beschwerlich wurde. Morgan vergrub das Gesicht in den Ärmel seines Kittels und gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn die Tunnelwände einstürzten.
Nach endlos erscheinender Zeit wurden sie langsamer und blieben schließlich stehen. »Ja, hier ist es«, hörte er Carisman zu Walker sagen. Er lauschte, wie die beiden sich mühten, die Falltüre zu öffnen. Sie arbeiteten schweigend, stöhnten und stemmten und bewegten sich in der Enge. Morgan und die anderen hockten sich hin und warteten.
Das Freilegen der Falltüre dauerte fast ebensolang wie der ganze Weg durch den Tunnel. Als sie schließlich aufklappte, strömte frische Luft herein, und die sechs kletterten in die Nacht hinaus. Sie befanden sich in einer dicht bewaldeten Senke, und die Bäume standen so eng beieinander, daß ihr Geäst den Himmel fast vollständig abschirmte.
Wortlos standen sie eine Weile da und sogen die frische Luft ein. Dann drängte Dees herbei. »Wo geht es zu den Stacheln?« fragte er Carisman ungeduldig.
Carisman wies die Richtung, und Dees wollte sofort losgehen, doch Pe Ell packte ihn am Arm und riß ihn zurück. »Warte!« warnte er. »Dort sind mit Sicherheit Wachposten!«
Er warf dem alten Fährtensucher einen vernichtenden Blick zu, machte den anderen Zeichen, zu warten und verschwand in der Finsternis. Morgan ließ sich gegen den Stamm einer riesigen Kiefer sinken, und die anderen wurden zu undeutlichen Schatten hinter den struppigen Ästen. Er schloß müde die Augen. Es schien Tage her zu sein, seit er richtig geruht hatte. Er dachte, wie gut es täte, ein wenig zu schlafen.
Aber eine Berührung an seiner Schulter weckte ihn gleich wieder auf. »Ruhig, Hochländer«, flüsterte Walker Boh. Der große Mann ließ sich neben Morgan nieder, und seine dunklen Augen suchten Morgans. »Du bewegst dich auf gefährlichem Boden in diesen Tagen, Morgan Leah. Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst.«
Morgan blinzelte. »Was meinst du damit?«
Walker neigte sein Gesicht ein wenig, und Morgan sah, wie Anspannung und Belastung seine Züge verzerrten. »Pe Ell. Bleib ihm fern. Provoziere ihn nicht, fordere ihn nicht heraus. Halte dich so fern von ihm, wie du kannst. Wenn er will, schlägt er schneller zu als eine Schlange.«
Er flüsterte, seine Stimme klang rauh, und die Überzeugung, die darin lag, ließ Morgan schaudern. Eine spröde Todesbotschaft. Morgan schluckte gegen seine Gefühle an und nickte. »Wer ist er, Walker? Weißt du es?«
Der Dunkle Onkel schaute weg und dann wieder zu Morgan. »Manchmal kann ich Dinge durch eine Berührung fühlen. Manchmal kann ich die Geheimnisse eines anderen erfahren, indem ich nur an ihm entlangstreiche. Das geschah, als ich Carisman von Pe Ell wegzog. Er hat getötet. Viele Male. Er hat es absichtsvoll getan, nicht in Selbstverteidigung. Er genießt es. Ich nehme an, er ist ein Meuchelmörder.«
Seine bleiche Hand hielt den erschreckten Morgan fest. »Hör zu. Er hat unter seinen Kleidern eine Waffe von immenser Kraft verborgen. Seine Waffe ist magisch. Die benutzt er zum Morden.«