Irgendwann wurde der Fluß breiter, wo er aus dem Felsengebirge in das nördlich liegende Hügelland floß und sich in ein waldumgrenztes Becken leerte, von dem aus sein Flußbett ihn nach Süden führte. In der Mitte befand sich eine Insel, und der Stamm, auf dem sie ritten, blieb hüpfend und sich drehend an ihrem Ufer hängen. Morgan und Quickening rissen sich von ihrem Behelfsfloß los und stolperten erschöpft an Land. Außer Atem, die Kleider zerfetzt, krochen sie durch das Gras in den Schutz der Bäume, eine Gruppe von Hartholzkiefern, überragt von zwei riesigen, alten Ulmen. Wasser strudelte in Bächen um sie herum, während sie sich mühselig über das regengepeitschte Inselufer kämpften, und der Wind pfiff ihnen in den Ohren. Ein Blitz traf das Festlandufer mit ohrenbetäubendem Krach nicht weit entfernt, und sie drückten sich platt auf den Boden, während der Donner vorbeirollte.
Schließlich erreichten sie die Bäume und stellten dankbar fest, daß es unter dem Blätterdach relativ trocken und windgeschützt war. Sie taumelten zum Fuß der größten Ulme und brachen zusammen, streckten sich nebeneinander auf dem Boden aus und rangen nach Luft. Ohne sich zu rühren, blieben sie eine Weile so liegen, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann schauten sie einander lange an und einigten sich wortlos, sich aufzusetzen und an die rauhe Rinde der Ulme zu lehnen, wo sie Schulter an Schulter sitzen blieben und in den Regen hinausstarrten.
»Bist du in Ordnung?« fragte Morgan sie. »Quickening?«
Es war das erste, was überhaupt gesprochen wurde. Sie nickte schweigend. Morgan untersuchte sich selbst auf Wunden, fand keine, seufzte und lehnte sich zurück – erleichtert, müde, kalt und unbeschreiblich hungrig und durstig, obwohl er völlig durchweicht war. Aber es gab nichts zu essen oder trinken, und es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken.
Er schaute wieder zu ihr hinüber. »Ich nehme an, du kannst kein Feuer machen, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Darfst keinerlei Magie benutzen, hm? Nun ja. Wo steckt denn Walker Boh, wenn man ihn braucht?« Er versuchte, unbeschwert zu klingen, doch es mißlang. Er seufzte.
Sie legte ihre Hand auf die seine, und es wärmte ihn trotz seines Unbehagens. Er hob den Arm, legte ihn um ihre Schultern und zog sie näher. Es gab ihnen beiden ein kleines bißchen Geborgenheit. Ihr Silberhaar war an seiner Wange und ihr Duft in seiner Nase, eine Mischung aus Erde und Wald und noch etwas, das süß und unwiderstehlich roch.
»Sie werden uns nicht finden, bevor das Gewitter vorüber ist«, sagte sie.
Morgan nickte. »Wenn überhaupt. Es gibt keinen Weg, dem sie folgen können. Nur den Fluß.« Er runzelte die Stirn. »Wo sind wir überhaupt? Nördlich oder südlich von der Stelle, wo wir in den Fluß gestürzt sind?«
»Nordöstlich«, erklärte sie.
»Das weißt du?«
Sie nickte. Er konnte fühlen, wie sie atmete, die leise Bewegung dicht an seinem Körper. Er fror, doch sie so nah zu haben, machte das beinahe wieder wett. Er schloß die Augen.
»Du hättest nicht hinter mir herspringen sollen«, sagte sie plötzlich. Sie klang unbehaglich. »Ich wäre zurechtgekommen.«
Er versuchte vergebens, ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich war fällig für ein Bad.«
»Du hättest dich verletzen können, Morgan.«
»Nicht ich. Ich habe schon Angriffe von Schattenwesen, Föderationssoldaten, Schleichern und anderem solchem Geschmeiß überlebt und sogleich wieder vergessen. Ein Sturz in einen Fluß kann mir nichts anhaben.«
Der Wind pfiff scharf, heulte durch die Bäume, und sie schauten himmelwärts und lauschten. Als das Geheul verklang, konnten sie wieder das Rauschen des Flusses hören, der gegen das Ufer donnerte.
Morgan kauerte sich in seinen nassen Kleidern zusammen. »Wenn das Gewitter endlich vorüber ist, können wir ans Festland schwimmen, diese Insel verlassen. Im Augenblick ist der Fluß zu aufgewühlt, um es jetzt zu versuchen. Und wir sind viel zu erschöpft. Aber wir sind hier in Sicherheit. Nur ein bißchen naß.«
Morgan stellte fest, daß er nur redete, um irgend etwas zu tun, und schwieg wieder. Quickening reagierte nicht. Er konnte beinahe fühlen, wie sie nachdachte, aber er hatte keinerlei Anhaltspunkte, worüber. Er schloß die Augen wieder. Er fragte sich, was aus den anderen geworden sein mochte. War es ihnen gelungen, den Steig heil bis nach unten zu gehen, oder hatte das Abrutschen des Simses dazu geführt, daß Walker und Pe Ell oben auf dem Steilhang festsaßen? Er versuchte, sich den Dunklen Onkel und den Mörder zusammen in derselben Falle vorzustellen, aber es gelang ihm nicht.
Es begann jetzt zu dunkeln, die Dämmerung vertrieb das bißchen Licht, das noch da war, und Schatten breiteten sich in wachsenden schwarzen Flecken über die Insel. Der Regen ließ ein wenig nach, der Donner und das Heulen des Windes verschwanden in der Ferne, und das Gewitter zog vorüber. Die Luft hatte sich nicht so abgekühlt, wie Morgan erwartet hatte, sondern sie wurde wieder wärmer, angereichert mit dem Geruch von Erde und Feuchtigkeit. Um so besser, dachte er. Es war ihnen ohnehin ziemlich kalt. Er stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wieder warm und trocken zu sein, in seiner Jagdhütte im Hochland zu sein, mit einer heißen Suppe vor dem Feuer auf dem Boden zu sitzen und sich mit den Ohmsfords Lügengeschichten zu erzählen.
Oder vielleicht lieber mit Quickening, ohne etwas zu sagen, denn es wäre überflüssig zu reden. Es reichte, zusammenzusein, sich zu berühren …
Der Schmerz, den er empfand, füllte ihn gleichzeitig mit Sehnsucht und Furcht. Morgan wünschte, daß er ihm erhalten bliebe, daß er immer da sei, und gleichzeitig verstand er ihn nicht, und er war sicher, daß er von ihm verraten werden würde.
»Bist du wach?« fragte er, plötzlich begierig, den Klang ihrer Stimme zu hören.
»Ja«, erwiderte sie.
Er holte tief Luft und atmete langsam aus. »Ich habe darüber nachgedacht, warum ich hier bin«, sagte er. »Ich frage mich danach, seit ich Culhaven verlassen habe. Ich verfüge über keine Magie mehr – so gut wie keine. Und alles, was ich je hatte, steckte im Schwert von Leah, das nun zerbrochen ist. Was an Magie übrig ist, ist nicht der Rede wert und wird dir kaum von großem Nutzen sein. Also bin ich es nur, und ich …« Er hielt inne. »Ich weiß halt einfach nicht, was du von mir erwartest, nehme ich an.«
»Nichts«, entgegnete sie leise.
»Nichts?« Er konnte nicht verhehlen, wie ungläubig er war.
»Nur, was du zu geben bereit und fähig bist«, erklärte sie.
»Aber ich dachte, der König vom Silberfluß hätte gesagt …« Er hielt inne. »Ich dachte, dein Vater hätte gesagt, daß ich gebraucht würde. War das nicht, was du gesagt hast? Daß er dir mitgeteilt hat, daß wir gebraucht würden, wir alle?«
»Er hat mir nicht gesagt, was ihr tun sollt, Morgan. Er sagte mir, ich solle euch mit auf die Suche nach dem Talisman nehmen, und daß ihr dann wüßtet, was zu tun sei, du und wir alle.« Sie rückte ein Stück von ihm ab und drehte sich um, um ihn anzuschauen. »Wenn ich dir mehr sagen könnte, dann würde ich das tun.«
Er runzelte die Stirn, frustriert über ihre ausweichende Art zu antworten und über seine Ungewißheit. »Wirklich?«
Sie lächelte beinahe. Sogar vom Regen durchnäßt und vom Flußwasser verdreckt, war sie die allerschönste Frau, die er je gesehen hatte. Er versuchte etwas zu sagen, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Er saß nur stumm da und starrte sie an.
»Morgan«, sagte sie leise. »Mein Vater sieht Dinge, die allen anderen verborgen sind. Er sagte mir, was ich wissen muß, und ich habe genug Vertrauen zu ihm, um zu glauben, daß das, was er mir gesagt hat, genug ist. Du bist hier, weil ich dich brauche. Es hat etwas mit der Magie deines Schwertes zu tun. Mein Vater sagte mir, was ich dir wiederholt habe, daß du die Gelegenheit haben wirst, dein Schwert wieder heilzumachen. Und dann wird es uns beiden vielleicht in einer Weise dienen, die wir nicht vorhersehen können.«