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Sie erhoben sich und gingen zurück in den Schutz der Bäume, zu der Ulme, unter der sie zuvor das Gewitter abgewartet hatten, und ließen sich wieder an ihrem Stamm nieder. Sie hielten sich aneinander fest wie Kinder, die verängstigt und allein sind und Schutz vor den namenlosen Schrecken suchen, die gleich außerhalb ihres Bewußtseins lauern, ihre Träume heimsuchen und ihren Schlaf bedrohen.

»Als ich die Gärten meiner Geburt verließ, sagte mir mein Vater, daß es Dinge gebe, vor denen er mich nicht bewahren kann«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war nah an Morgans Wange, sanft und weich, und ihr Atem war warm. »Er meinte damit nicht die Gefahren, die mich erwarteten – Uhl Belk oder die Lebewesen, die in Eldwist hausen, nicht einmal die Schattenwesen. Er sprach hiervon.«

Morgan strich ihr zärtlich über das Haar. »Es gibt nicht viel, das dich gegen deine Gefühle beschützen kann.«

»Ich kann sie verdrängen«, erwiderte sie.

Er nickte. »Wenn es sein muß. Aber ich muß dir sagen, daß ich nicht fähig bin, meine Gefühle zu verdrängen. Selbst wenn mein Leben davon abhinge, wäre ich dazu nicht imstande. Und es spielt dabei keine Rolle, wer oder was du bist. Elementargeist oder sonst irgend etwas. Mir ist unwichtig, wer dich gemacht hat und warum. Ich liebe dich, Quickening. Ich glaube, ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, seit den ersten Worten, die du gesprochen hast. Ich kann es nicht ändern, gleich, was du sonst von mir verlangst. Ich will es nicht einmal versuchen.«

Sie drehte sich in seinen Armen um und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Dann küßte sie ihn und küßte ihn, bis alles um sie herum verschwand.

Als sie am nächsten Morgen erwachten, stieg die Sonne gerade über den Horizont eines wolkenlosen, blauen Himmels. Vögel zwitscherten, und die Luft war warm und süß. Sie erhoben sich, wanderten ans Flußufer und fanden den Rabb wieder träge und friedlich dahinfließen. Morgan Leah schaute Quickening an, die Linie ihres Körpers, die wilde Silbermähne, die Sanftheit ihrer Züge, und ein breites, unwillkürliches Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich liebe dich«, flüsterte er.

Sie lächelte zurück. »Und ich liebe dich, Morgan Leah. Ich werde in meinem ganzen Leben niemanden so lieben, wie ich dich liebe.«

Sie sprangen in den Fluß. Sie waren gut ausgeruht und schwammen mühelos zum Festland hinüber. Als sie das andere Ufer erreichten, blieben sie einen Moment stehen und schauten zu ihrer Insel zurück. Morgan kämpfte gegen eine Welle von Traurigkeit an, die in ihm aufstieg. Die Insel und ihre Einsamkeit und die vergangene Nacht waren für ihn verloren und blieben nur als Erinnerung zurück. Sie gingen wieder in die Welt des Uhl Belk und des schwarzen Elfensteins.

Sie folgten dem Ufer flußaufwärts nach Süden während mehrerer Stunden, ehe sie die anderen fanden. Es war Carisman, der sie als erster erspähte, als er am Rand eines steilen Uferfelsens entlangging, und beglückt benachrichtigte er die anderen. Dann stürmte er mit fliegendem Haar und gerötetem Gesicht den Hang hinunter. Die letzten Meter rutschte er auf der Kehrseite, sprang auf und hüpfte ihnen entgegen. Er warf sich Quickening zu Füßen und fing an zu singen:

»Die verlorenen Schäflein sind wiedergefunden, gerettet die Lämmchen vor Wölfen und Wunden. Sie irrten weitum, dock sie fanden zurück, jetzt bleiben sie hier, sie sind unser Glück. Tralala, tralala, tralala.«

Es war ein albernes Lied, doch Morgan mußte unwillkürlich lächeln. Wenig später kamen auch die anderen herbei, der hagere Pe Ell, dessen düstere Wut, Quickening verloren zu haben, der Erleichterung darüber, daß sie wieder da war, wich; der bärenhafte Horner Dees, der brummig die Sache als erledigt abtun wollte, und der rätselhafte Walker Boh, dessen Gesicht eine unergründliche Maske war, als er Morgan zu der Rettung gratulierte. Und währenddessen tanzte und sang ein überschwenglicher Carisman und füllte die Umgebung mit seiner Musik.

Nachdem die Begrüßungen schließlich erledigt waren, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie verließen das Charnalgebirge und zogen in das Waldland im Norden. Irgendwo weit vor ihnen wartete Eldwist. Die Sonne stieg in den Himmel und hing dort, wärmte und beleuchtete das Land, als sei sie entschlossen, sämtliche Spuren des gestrigen Gewitters zu verwischen.

Morgan ging neben Quickening. Achtsam suchten sie den Weg zwischen verdampfenden Pfützen und Rinnsalen. Sie sagten nichts. Sie schauten einander nicht einmal an. Nach einer Weile fühlte er, wie sie seine Hand in die ihre nahm.

Bei ihrer Berührung durchflutete ihn die Erinnerung.

17

Fünf Tage lang wanderten sie nordwärts durch das Land jenseits der Charnalberge, ein grünes, sanftes Hügelland mit hohem Gras und Feldern voller Wildblumen, hin und wieder kleinen Wäldern mit Kiefern, Espen und Fichten. Bäche und Flüsse schlängelten sich in Mäandern silberner Bänder von den Bergen herunter, bildeten Seen, die wie Spiegel in der Sonne glänzten und kühlende Brisen aussandten. Es war leichter, hier zu reisen als im Gebirge. Das Gelände war weit weniger steil, der Boden sicher und das Wetter mild. Die Tage waren sonnig, die Nächte lau und voll von süßen Düften. Der Himmel streckte sich weit und tief und blau von einem Horizont zum anderen. Es regnete nur einmal, einen sanften, freundlichen Regen, der die Bäume und das Gras anfeuchtete und fast unbemerkt vorüberging. Die Stimmung der Gruppe war gut: Ihre Schritte waren kraftvoll und schnell. Die Sorgen um das, was ihnen bevorstand, wurden von neuer Zuversicht und einem gewissen Wohlbefinden gedämpft. Die Zweifel steckten halbvergessen in den dunklen Tiefen ihres Bewußtseins. Die Stunden meißelten an den launischen Temperamenten mit gemächlicher, stetiger Präzision, als würden sie von dem Werkzeug eines Steinmetzen geebnet und geformt, bis alle scharfen Kanten verschwanden und nur noch die glatte Oberfläche angenehmer Gesellschaft übrigblieb.

Selbst Walker Boh und Pe Ell hielten einen unausgesprochenen Waffenstillstand. Niemand konnte behaupten, daß sie auch nur die geringste Neigung dazu hätten, miteinander Freundschaft zu schließen, doch sie hielten freundlich Abstand zueinander, und beide zeigten ein wohleinstudiertes Desinteresse aneinander. Für den Rest der Gruppe war Unveränderlichkeit die Verhaltensnorm. Horner Dees blieb mürrisch und barsch, Carisman unterhielt sie mit Geschichten und Liedern, und Morgan und Quickening spielten und fochten mit Blicken und Gesten in einem Liebestanz, der allen außer ihnen ein Mysterium blieb. Bei allen, außer vielleicht Carisman, gab es eine Unterströmung von Vorsicht und Verschwiegenheit. Carisman schien unfähig, mehr als nur ein Gesicht zu zeigen. Doch die übrigen waren in ihren dunklen Momenten vorsichtig und sehr darauf bedacht, ihre Zweifel und Befürchtungen in Schach zu halten, in der Hoffnung, daß sich eine Mischung aus Glück und Entschlossenheit als ausreichend erweisen würde, sie heil bis ans Ende ihrer Reise zu bringen.

Den Anfang von diesem Ende brachte der nächste Tag mit einer schrittweisen Veränderung der Landschaft. Das Grün, das die Wälder und Hügel im Süden geschmückt hatte, verblaßte zu Grau. Blumen wurden immer seltener, das Gras welk und trocken. Bäume, die voll üppigen Laubs sein sollten, waren verkümmert und kahl. Vögel, die nur eine Meile weiter südlich in großer, bunter Schar gesungen hatten und umhergeflogen waren, fehlten ebenso wie das Kleinwild oder größere, huf- oder hörnertragende Tiere. Es war, als habe eine Dürre das Land heimgesucht und alles Leben vernichtet.

Am späten Morgen standen sie auf dem Kamm einer Erhebung und schauten über das trostlose Land, das sich vor ihnen auftat.

»Schattenwesen«, erklärte Morgan finster.

Doch Quickening schüttelte ihre Silbermähne und erwiderte: »Uhl Belk.«

Mittags wurde es schlimmer, und noch schlimmer bei Einbruch der Nacht. Sämtliche Spuren von Gras und Blättern waren verschwunden. Selbst die winzigsten Kräuter weigerten sich, hier zu wachsen. Stämme reckten ihre skelettartigen Glieder in den Himmel, als flehten sie um Hilfe und Schutz. Das Land schien so gründlich verwüstet, daß nichts mehr zu wachsen wagte, eine weite Wildnis, die leer und kahl und freudlos geworden war. Staubwolken wirbelten unter ihren Schritten auf, als sie über den toten Boden stapften, wie der vergiftete Atem der Erde. Nichts regte sich um sie herum, über ihnen, unter ihnen – keine Tiere, keine Vögel, nicht einmal Insekten. Es gab kein Wasser. Der Erde entströmte ein metallischer, schaler Geruch. Wolken sammelten sich wieder, erst nur vereinzelt, dann immer dichter, bis eine undurchdringliche Wolkendecke wie ein Leichentuch über dem Land lag.