Quickening stand neben ihm. »Magie«, flüsterte sie.
Er starrte sie an, überrascht, wie schnell sie eine Wahrheit erkannt hatte, die ihm entgangen war. »Das ist es«, murmelte er. Er streckte die Hand aus und suchte. »Überall, im Stein selbst.«
»Er ist hier«, flüsterte Quickening.
Carisman kam herbei und strich prüfend über die Mauer. Er runzelte die Stirn. »Warum reagiert er nicht? Sollte er nicht längst herausgekommen sein, um zu sehen, was wir wollen?«
»Vielleicht weiß er gar nicht, daß wir hier sind. Vielleicht ist es ihm auch egal.« Quickening sah fragend zu ihm auf. »Vielleicht schläft er auch.«
Carisman legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Dann braucht es vielleicht ein Lied, um ihn aufzuwecken!«
Er begann zu singen:
Als er geendet hatte, schaute er erwartungsvoll auf die große steinerne Kuppel. Es kam keine Antwort. Er schaute Quickening und Walker an und zuckte mit den Schultern. »Ist vielleicht nicht die Art von Musik, die ihm behagt. Ich werde mir etwas anderes ausdenken.«
Sie verließen die Kuppel und begaben sich in den Schutz eines nahe gelegenen Hauseingangs. Sie ließen sich mit dem Rücken zur Wand nieder, so daß sie auf die Kuppel schauen konnten, und holten aus ihren Rucksäcken etwas altes Brot und ein paar getrocknete Früchte zum Mittagessen. Sie aßen schweigend und schauten aus dem Schatten in den grauen Regen hinaus.
»Wir haben fast nichts mehr zu essen«, sagte Walker nach einer Weile. »Und das Wasser wird auch knapp. Wir werden bald etwas unternehmen müssen.«
Carisman strahlte. »Ich werde uns Fische fangen. Ich war mal ein ausgezeichneter Fischer – auch wenn ich es nur aus Vergnügen gemacht habe. Es war ein angenehmer Zeitvertreib, bei dem ich komponieren konnte. Sag mal, Walker Boh, was hast du eigentlich gemacht, ehe du nach Norden gekommen bist?«
Walker zögerte, überrascht von der Frage und unvorbereitet für die Antwort. Was hatte er eigentlich gemacht, fragte er sich. »Ich war Verwalter«, entschied er schließlich.
»Von was?« drängte Carisman neugierig.
»Von einer Hütte und dem umliegenden Land«, sagte er leise und voller Erinnerungen.
»Von einem ganzen Tal und allem, was darauf lebte«, ergänzte Quickening und lenkte Carismans Aufmerksamkeit auf sich. »Walker Boh beschützte das Leben in der Weise der Elfen alter Zeiten. Er gab von sich selbst, um das Land zu befruchten.«
Walker starrte sie an, wieder völlig überrascht. »Es war ein kläglicher Versuch«, schränkte er verlegen ein.
»Ich erlaube dir nicht, darüber zu urteilen«, erwiderte das Mädchen. »Es ist die Aufgabe anderer, festzustellen, wie erfolgreich du in deiner Arbeit warst. Du bist zu hart in deiner Kritik, und dir fehlt die nötige Distanz, um fair und unparteiisch zu sein.« Sie hielt inne und musterte ihn. »Ich bin überzeugt, daß man urteilen wird, daß du alles getan hast, was du konntest.«
Beide wußten sie, was sie damit meinte, und ihre Worte erwärmten ihn in seltsamer Weise. Wieder empfand er dieses Gefühl der Verwandtschaft zwischen ihnen beiden. Er nickte, ohne etwas zu entgegnen, und aß weiter.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, erhoben sie sich und standen erneut vor der Kuppel und überlegten, was sie als nächstes versuchen würden.
»Vielleicht läßt sich von oben etwas sehen«, schlug Quickening vor. »Eine Öffnung in der Spitze der Kuppel oder vielleicht eine Abweichung im Stein, die auf einen Eingang hindeutet.«
Walker schaute sich um. Weniger als einen Block entfernt stand ein verziertes Gebäude mit einem Glockenturm, von dem aus man gut auf die Kuppel hinunterschauen konnte. Vorsichtig gingen sie hinüber, ständig auf der Hut vor den Falltüren, und erreichten den Eingang. Skulpturen geflügelter Engel und gewandeter Figuren schmückten Wände und Decken. Wachsam schlichen sie ins Innere. Der Mittelsaal war weitläufig, die Fensterscheiben längst zerfallen, die Ausstattung zu Staub zerbröckelt. Sie fanden die Treppe, die auf den Glockenturm führte, und begannen hinaufzusteigen. An manchen Stellen waren die Stufen abgestürzt, und nur die Verankerung war übriggeblieben. Sie balancierten über die Löcher und stiegen unermüdlich weiter. Sie ließen eine Etage nach der anderen unter sich, jede mit Löchern im Boden und übersät mit Schutt, und alles war versteinert und im Zustand des Verfalls perfekt erhalten.
Ohne weitere Schwierigkeiten gelangten sie auf die oberste Etage des Glockenturms und traten an die Fenster. Die Stadt Eldwist erstreckte sich nach allen Seiten, dunstig und grau, und schon füllte sie sich mit den Schatten des zur Neige gehenden Tages und dem Herannahen der Nacht. Der Regen hatte etwas nachgelassen, und die Häuser erhoben sich wie steinerne Wächter über die Halbinsel. Die Wolken hatten sich ein wenig gelichtet, und die geschieferte Wasseroberfläche des Gezeitenstroms und die zerklüfteten Klippen des Festlandes jenseits der Landenge waren durch Lücken in den langen Ketten steinerner Mauern zu sehen.
Die Kuppel stand direkt unter ihnen, von oben ebenso verschlossen und undurchschaubar, wie sie es von unten gewesen war. Es war nichts zu erkennen, kein Zeichen einer Öffnung, kein Hinweis auf einen Eingang. Dennoch betrachteten sie sie eine Weile in der Hoffnung, irgend etwas zu entdecken, das ihnen entgangen war.
Während sie mitten in ihrer Betrachtung waren, erschreckte sie plötzlich ein Hornsignal.
»Urdas!« schrie Carisman.
Walker und Quickening schauten einander erstaunt an, doch Carisman war schon an das Südfenster des Turms gesprungen und spähte in Richtung der Landenge und der Klippen, die hinunterführten.
»Das müssen sie sein, es ist ihr Signal!« rief er aufgeregt und beunruhigt. Er überschattete seine Augen gegen das blendende Licht, das sich auf dem nassen Stein spiegelte. »Dort! Seht ihr sie?«
Walker und Quickening rannten zu ihm. Der Sänger zeigte auf die Stelle, wo die Stufen von der Aussichtsplattform die Klippen hinunterführten und im Nebel kaum zu erkennen waren. Man konnte auf der Treppe eine Bewegung ausmachen, kleine, gebeugte Gestalten, tief gebückt, als wollten sie sich selbst vor den Schatten verstecken. »Urdas«, erkannte Walker, und sie kamen herunter.
»Was denken sie sich eigentlich!« rief Carisman sichtlich bestürzt. »Sie können doch nicht herkommen!«
Die Urdas wurden von einer Nebelwolke verschluckt. Carisman wirbelte zu seinen Gefährten herum. »Wenn sie nicht aufgehalten werden, werden sie alle getötet!« rief er verzweifelt aus.
»Du bist nicht mehr für sie verantwortlich, Carisman«, beschwichtigte ihn Walker Boh sanft. »Du bist nicht mehr ihr König.«
Carisman war nicht überzeugt. »Es sind Kinder, Walker! Sie haben keine Ahnung, was hier unten lebt. Der Kratzer oder der Malmschlund werden sie vernichten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie überhaupt am Koden vorbeigekommen sind …«
»Genauso wie Horner Dees vor zehn Jahren«, unterbrach ihn Walker. »Indem sie Leben geopfert haben. Und trotzdem streben sie weiter. Offenbar machen sie sich nicht so viel Sorgen um sich selbst wie du um sie.«
Carisman wandte sich aufgeregt an Quickening. »Lady, du hast gesehen, wie sie reagieren. Was wissen sie schon vom Steinkönig und seiner Magie? Wenn sie nicht aufgehalten werden …«