Walker versuchte sie zu verstehen. »Ich fürchte die Magie nicht mehr, mit der ich zur Welt gekommen bin«, sagte er und betrachtete ihre Gesichtszüge, die Linien und Kurven und Winkel, als könne sie verschwinden, ehe er Zeit gehabt hätte, sie sich einzuprägen. »Mein Neffe Par Ohmsford ermahnte mich einmal, daß die Magie eine Gabe, nicht ein Fluch sei. Ich wies es von mir. Ich hatte Angst vor den Folgen, die der Besitz der Magie mit sich brachte. Ich fürchtete …«
Er fing sich mit eisernem Griff, der sich augenblicklich um seine Kehle und seine Gedanken legte. Der Schatten von etwas Entsetzlichem hatte sich ihm gezeigt, ein Schatten, der ihm im Laufe der Jahre vertraut geworden war. Er hatte kein Gesicht, doch er sprach mit den Stimmen von Allanon und Cogline und seinem Vater und sogar seiner eigenen. Er wisperte von Geschichte und Bedürfnissen und Gesetzen der Menschheit. Heftig stieß er ihn fort.
Quickening lehnte sich vor und berührte sein Gesicht mit zarten Fingern.
»Ich fürchte nur, daß du fortfährst, dich selbst zu verleugnen«, flüsterte sie, »bis es zu spät ist.«
»Quickening …«
Ihr Finger legten sich auf seine Lippen und hießen ihn schweigen. »Das Leben hat eine Ordnung für all die verschiedenen Ereignisse und Geschehnisse und alles, was wir in der uns gegebenen Zeit tun. Wir können diese Ordnung verstehen, wenn wir es uns erlauben, wenn uns das Wissen nicht erschreckt. Wissen allein reicht nicht, wenn wir nicht gleichzeitig dieses Wissen akzeptieren. Irgendwer kann dir das Wissen vermitteln, Walker Boh, doch du allein kannst lernen, es zu akzeptieren. Das muß von innen kommen. Deshalb hat mein Vater mich ausgesandt, dich und Pe Ell und Morgan Leah nach Eldwist zu bringen; deshalb wird die Kombination eurer Magie den schwarzen Elfenstein befreien und den Heilprozeß der Vier Länder einleiten. Ich weiß, daß dies geschehen wird. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich wissen, wie. Aber ich muß bereit sein, die Wahrheit zu akzeptieren, wenn das geschieht. Und das gleiche gilt für dich.«
»Ich werde …«
»Nein, du wirst nicht bereit sein, Walker«, kam sie ihm zuvor, »wenn du weiterhin Wahrheiten leugnest, die du längst kennst. Das ist, was du dir klarmachen mußt. Sprich jetzt nicht mehr davon. Denk nur über das nach, was ich dir gesagt habe.«
Sie wandte sich ab. Es war keine Abfuhr, sie meinte es nicht so. Es war nichts als ein Abbrechen, ein Beenden des Gesprächs, nicht um ihn zu strafen, sondern um ihm den Freiraum zu geben, sich selbst zu erforschen. Er saß da und starrte sie eine Weile an, dann wurde er nachdenklich. Er überließ sich den Bildern, die ihre Worte heraufbeschworen. Er dachte an andere Stimmen zu anderen Zeiten, an die Welt, aus der er kam, mit ihren falschen Wertvorstellungen, ihren Ängsten vor dem Unbekannten, ihrer Unterwerfung unter eine Regelung und Gesetze, die sie nicht verstehen wollte. Bring die Druiden und Paranor zurück, hatte Allanon ihm aufgetragen. Würde das eine Veränderung auslösen, die Welt, die Vier Länder in das zurückzuverwandeln, was sie einst waren? Und würde das die Dinge verbessern? Er zweifelte daran, doch er stellte fest, daß seine Zweifel eher in dem Mangel an Verstehen wurzelten als in seinen Ängsten. Was mußte er tun? Er mußte den schwarzen Elfenstein zurückerobern, ihn nach Paranor tragen und irgendwie, auf irgendeine Weise, die Feste wiederbringen. Doch was würde damit erreicht werden? Cogline war fort. Alle Druiden waren fort. Es blieb niemand …
Außer ihm selbst.
Nein! Er schrie das Wort beinahe heraus. Es trug das Gesicht von dem, was er fürchtete, das, wogegen er so hart ankämpfte, um es sich vom Leib zu halten. Es war die erschreckende Möglichkeit, die an den Rändern seines selbstauferlegten Schutzschilds kratzte und krallte, solange er denken konnte.
Er würde die Sache der Druiden nicht übernehmen! Doch er war Brin Ohmsfords letzter Nachkomme. Er war der Träger des Vermächtnisses, das ihr von Allanon überantwortet worden war. Nicht in deinem Leben. Bewahr es sicher für kommende Generationen. Eines Tages wird es wieder gebraucht werden. Worte aus der fernen Vergangenheit, gesprochen vom Schatten des Druiden nach seinem Tod, quälend, unerfüllt.
Ich habe die Magie nicht! jammerte er verzweifelt. Warum muß ich es sein? Warum? Aber er kannte die Antwort längst. Notwendigkeit. Weil die Notwendigkeit bestand. Es war die Antwort, die Allanon allen Ohmsfords gegeben hatte, jedem von ihnen, Jahr um Jahr, Generation um Generation. Immer.
Er rang mit dem Gespenst seines Schicksals in der Stille seiner Gedanken. Die Augenblicke zogen sich in die Länge. Schließlich hörte er Quickening sagen: »Es wird dunkel, Walker Boh.«
Er blickte auf und sah, daß das Tageslicht der Dämmerung zu weichen begann. Er stand auf und schaute nach Süden. Die Landenge war leer. Kein Zeichen von den Urdas.
»Es hat zu lange gedauert«, sagte er und ging zur Treppe.
Eilig stiegen sie hinunter, verließen das Haus und folgten dem Gehsteig zum südlichen Stadtrand. Schatten breiteten sich schon über alles, das Licht wich zum westlichen Horizont zurück. Die Seevögel waren in ihre Horste zurückgekehrt, und das Brausen des Ozeans war zu einem fernen Stöhnen abgeklungen. Der Stein unter ihren Stiefeln hallte leise mit jedem Schritt, als wispere er von Geheimnissen, um die Stille zu brechen.
Sie erreichten den Stadtrand und wurden langsamer, bewegten sich nur behutsam vorwärts und spähten in die Dämmerung auf der Suche nach Zeichen möglicher Gefahren. Sie fanden keinerlei Bewegung. Der Nebel ringelte seine feuchten Ranken durch gähnende Fenster und in Abflußgitter, und überall war das Gefühl einer verborgenen Gegenwart. Vor ihnen erstreckten sich die Felsen der Landenge ins Dunkel, zerklüftet und leblos.
Sie traten zwischen den Hausmauern hervor und blieben stehen.
Carismans Körper lag zusammengesunken an einer Felssäule, festgenagelt von einem Dutzend Speeren. Er war schon seit geraumer Zeit tot, sein Blut vom Regen fortgewaschen.
Es sah aus, als seien die Urdas den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückgegangen.
Sie hatten Carismans Kopf mitgenommen.
Selbst Kinder können gefährlich sein, dachte Walker Boh traurig. Er faßte nach Quickenings Hand und hielt sie fest. Er versuchte sich vorzustellen, was Carisman gedacht haben mochte, als er erkannte, daß seine Familie ihn verstoßen hatte. Er versuchte sich einzureden, daß er nichts hätte tun können, um es zu verhindern.
Quickening rückte nah an ihn heran. Sie standen wortlos da und starrten auf den toten Sänger. Dann wandten sie sich um und gingen in die Stadt zurück.
24
In jener Nacht kehrten sie nicht in ihr gewohntes Versteck zurück; es war schon fast dunkel, als sie die Landenge hinter sich ließen, und die Entfernung zurück durch die Stadt war zu groß, um sie sicher zurückzulegen. Sie fanden statt dessen gleich in der Nähe ein niedriges Gebäude mit gewundenen, engen Fluren und mit Zimmern, die an beiden Enden Türen hatten und damit einen Ausweg boten, falls der Kratzer auftauchen sollte. Sie ließen sich tief im steinernen Inneren des Hauses nieder, wo es so dunkel war, daß sie einander auf Armeslänge kaum sehen konnten, aßen eine Abendmahlzeit aus getrockneten Früchten und Gemüsen und versuchten, Carismans Geist aus ihrer Gegenwart zu verbannen. Der tote Sänger tauchte in Erinnerungen auf, in ungesagten Worten und im fernen, leisen Brausen der Ozeanwellen. Sein Gesicht erblühte in den Schatten, die sie warfen, und seine Stimme flüsterte im Geräusch ihres Atems. Walker Boh betrachtete Quickening, ohne sie zu sehen; seine Gedanken galten Carisman und wie er den Sänger hatte gehen lassen, als er ihn hätte hindern können. Als Quickening seinen Arm berührte, war ihm der Druck ihrer Finger kaum bewußt. Als sie mit ihrer Berührung in seinen Gedanken las, merkte er es nicht. Er fühlte sich ausgehöhlt und leer und unerträglich einsam.
Später, als sie schlief, wurde er sich ihrer wieder bewußt. Seine Selbstanklagen hatten sich erschöpft, sein Kummer war eingetrocknet; Carismans Schatten war verbannt, an den Ort und in die Zeit verwiesen, in die er gehörte. Walker saß in der Finsternis, der Stein von Wänden, Decke und Boden erdrückte ihn, die Stille war wie ein Laken, das ihn zu ersticken drohte, und die Zeit das Instrument, mit dem er das Herannahen seines eigenen Todes maß. War der Tod jetzt für irgendeinen von ihnen noch fern? Er betrachtete das Mädchen, das neben ihm schlief, beobachtete, wie sich ihre Brust hob und senkte, wie sie auf der Seite lag, das Gesicht von der Armbeuge getragen, ihr Silberhaar zurückgefächert und leuchtend. Er beobachtete den langsamen, stetigen Puls an ihrem schlanken Hals, sah die Vertiefungen ihres Gesichts und folgte der Form ihres Körpers unter dem Schutz ihrer Kleider, die seine Perfektion nicht zu verhehlen vermochten. Bei aller magischen Kraft war sie ein zerbrechliches Stück Leben, und er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß sie trotz des Vertrauens in ihren Vater und der Sicherheit, mit der sie sie nach Norden geführt hatte, in Gefahr schwebte. Das Gefühl war vage und schwer zu fassen, doch es entstammte seinen Instinkten und seinem Vorherwissen, geboren aus der Magie, die er von Brin Ohmsford geerbt hatte, Magie, die noch immer in ihm ebbte und flutete, je nachdem, wie die Gezeiten seines Glaubens an sich selbst stiegen und fielen. Er konnte es nicht ignorieren, Quickening war in Gefahr, und er wußte nicht, wie er sie retten sollte.