»Aber ich weiß es doch nicht«, flüsterte sie.
»Du mußt!«
»Walker …«
Er hatte Tränen in den Augen. »Ich kann nicht sein, was Allanon will, daß ich sei – was er von mir verlangt! Ich kann es nicht!« Er sog schnell und hastig die Luft ein, um sich zu fangen. »Siehst du das, Quickening? Wenn ich die Druiden wiederbringen soll, indem ich einer werde, wenn ich das muß, weil es keinen anderen Weg gibt, damit die Rassen die Schattenwesen überleben können, muß ich dann sein, wie sie einst waren? Muß ich die Kontrolle über das Leben jener übernehmen, denen ich zu helfen behaupte, jener anderen, die Ohmsfords sind, Par und Coll und Wren? Und für wie viele zukünftige Generationen? Wenn ich ein Druide bin, muß ich das tun? Kann ich etwas anderes tun?«
»Walker Boh.« Sie sagte seinen Namen leise und eindringlich. »Du wirst sein, was du sein mußt, doch du wirst immer noch du selber sein. Du bist nicht in einem Spinnennetz von Druidenmagie gefangen, die dein Leben vorherbestimmt hat, eines und nur das eine zu sein. Es gibt immer eine Wahl. Immer.«
Er hatte plötzlich das Gefühl, daß sie von etwas völlig anderem sprach. Ihr edles Gesicht war angespannt unter einem inneren Aufruhr. Sie hielt inne, um sich zu entspannen, die Falten und Runzeln zu glätten. »Du fürchtest dein Schicksal, ohne zu wissen, was es sein wird. Du bist gelähmt durch Zweifel und Befürchtungen, die du dir selber machst. Vieles ist dir widerfahren, Dunkler Onkel, und genug, um jedermann zweifeln zu machen. Du hast geliebte Menschen verloren, deine Heimat, einen Teil deines Körpers und deines Geistes. Du hast gesehen, wie das Gespenst einer Kindheitsangst Gestalt angenommen hat und zu einer Bedrohung geworden ist, die real ist. Du bist fern von allem, was dir vertraut ist. Aber du darfst nicht verzweifeln.«
Sein Blick war verquält. »Aber ich tue es, Quickening. Ich habe den Halt verloren. Ich fühle, wie ich vollständig untergehe.«
Sie nahm seine Hand. »Dann halt dich an mir fest, Walker Boh. Und erlaube mir, mich an dir festzuhalten. Wenn wir uns gegenseitig Halt geben, werden wir nicht abgleiten.«
Sie rückte neben ihn und legte ihm den Kopf auf die Brust. Ihr Silberhaar breitete sich über seinen Umhang. Sie sagte nichts, ruhte nur dort, hielt noch immer seine Hand fest, und ihre Wärme mischte sich mit der seinen. Er senkte sein Kinn auf ihr Haar und schloß die Augen.
Dann schlief er, und er hatte keine Träume und schreckte auch nicht plötzlich aus dem Schlaf. Nur ein sanftes Wiegen weicher, unsichtbarer Fäden, die ihn sicher hielten. Das Gefühl des Abgleitens verschwand, so wie sie es versprochen hatte. Er wurde nicht mehr von ungewissen, beunruhigenden Visionen geplagt; er wurde in Frieden gelassen. Ruhe umfing ihn, besänftigend und tröstend. Es waren die Hände einer Frau, und die Frau war Quickening.
Bei Tagesanbruch erwachte er, erhob sich von dem kalten Steinboden, und seine Augen gewöhnten sich an das magere graue Licht. Jenseits des Irrgartens aus Zimmern und Fluren, die ihn von der Außenwelt abschirmten, konnte er das leise Trommeln des Regens hören. Quickening war fort. Er fand sie an einer Fensterfront auf der Nordseite. Sie starrte in den Dunst hinaus. Die steinernen Häuser und Straßen glänzten naß, spiegelten ihr eigenes Bild als groteske Parodie, reflektierten ihre Leblosigkeit. Eldwist grüßte den neuen Tag als blinde, starre Leiche. Reihen von Häusern, Bänder von Straßen erstreckten sich in die Ferne, ein symmetrisches Konstruktionsmuster, glatt und hart und bar jeden Lebens. Walker trat neben Quickening und fühlte, wie sich die Beklemmung der Stadt über ihn legte.
Ihre Augen suchten seinen Blick. Ihre Silbermähne war das einzig Helle in der Düsternis. »Ich habe dich so fest gehalten, wie ich konnte, Walker Boh«, sagte sie. »War es ausreichend?«
Er brauchte eine Weile, bis er antwortete. Der Stumpf seines verlorenen Arms schmerzte, seine Gelenke waren steif und reagierten langsam. Er kam sich vor wie eine große Muschel, in der sein Geist zu der Größe eines Kieselsteins zusammengeschrumpft war. Und dennoch war er seltsam gefaßt.
»Ich muß an Carisman denken«, sagte er schließlich, »entschlossen, um jeden Preis frei zu sein. Auch ich wäre gern frei. Von meinen Ängsten und Zweifeln. Von mir selbst. Von dem, was ich werden könnte. Und das ist ausgeschlossen, bis ich das Geheimnis des schwarzen Elfensteins und die Wahrheit hinter den Träumen von Allanons Schatten gelöst habe.«
Quickenings Anflug von Lächeln überraschte ihn. »Auch ich wäre gern frei«, sagte sie leise. Sie schien es dringend erklären zu wollen, doch sie schaute schnell weg. »Wir müssen Uhl Belk finden«, sagte sie statt dessen.
Sie verließen ihren Unterschlupf und traten in den Regen hinaus. Sie folgten den schweigenden Straßen von Eldwist nach Norden durch Schatten und Dämmerlicht, gebückt unter dem Schutz ihrer Umhänge, verloren in ihren eigenen Gedanken.
»Eldwist ist wie eine Stadt mitten im Winter«, sagte Quickening, »die auf den Frühling wartet. Sie ist von Stein bedeckt, wie andere Teile der Erde von Schnee bedeckt sind. Kannst du ihre Geduld fühlen? Samen stecken im Boden, und wenn der Schnee schmilzt, können diese Samen zum Keimen gebracht werden.«
Walker wußte nicht so recht, was sie meinte. »In Eldwist gibt es nichts als Stein, Quickening. Er reicht bis in die Tiefe und von einem Ende der Halbinsel zum anderen. Es gibt hier keinen Samen, nichts von den Wäldern und Feldern, keine Bäume, keine Blumen, kein Gras. Nur Uhl Belk und die Monster, die ihm dienen. Und uns.«
»Eldwist ist eine Lüge«, sagte sie.
»Wessen Lüge?« fragte er. Doch sie gab keine Antwort.
Fast eine Stunde lang folgten sie der Straße, hielten sich wohlweislich auf dem Gehsteig und lauschten auf die Geräusche, falls irgend etwas sich bewegte. Doch außer dem stetigen Prasseln des Regens herrschte absolute Stille. Sogar der Malmschlund schlief, so schien es, sogar die Seevögel. Regenwasser sammelte sich in Pfützen und zu Bächen, floß in reißendem Strömen strudelnd und spritzend die Abwasserrinnen entlang und schwemmte den Staub und den Sand in die Gullis, die der Wind in die Stadt getragen hatte. Die Gebäude wachten als stumme, unbeteiligte, gefühllose Zeugen. Wolken und Nebel vermischten sich und senkten sich über sie und bis zum Boden. Die Umgebung begann zu verschwinden, zuerst die Türme, dann ganze Mauern und dann Teile der Straße selbst. Walker und Quickening fühlten eine Veränderung der Welt, so, als sei etwas losgelassen worden. Trugbilder kamen zum Spielen hervor, dunkle Schatten, die aus dem Boden stiegen, um am Rande ihres Sichtfelds zu tanzen, nie ganz wirklich, nie ganz durchgeformt. Augen beobachteten sie, spähten aus der Höhe hinunter, starrten aus dem Boden herauf. Finger streiften ihre Haut, Regentropfen, Nebelschwaden und noch irgend etwas. Walker ließ sich eins werden mit dem, was er fühlte, ein alter Trick, ein Verschmelzen des Selbst mit den äußeren Empfindungen, um ein winziges Maß an Einblick in den Ursprung des Ungesehenen zu gewinnen. Nach geraumer Zeit fühlte er etwas, ein finsteres, brütendes, uraltes Ding von gewaltiger Kraft. Er konnte es atmen hören. Er konnte beinahe seine Augen sehen.
Eine Gestalt tauchte vor ihnen aus dem Nebel, mit Umhang und Kapuze wie sie selbst und beunruhigend nah. Walker stellte sich vor Quickening und blieb stehen. Die Gestalt hielt ebenfalls an. Wortlos standen sie einander gegenüber. Dann verschoben sich die Wolken und veränderten den Einfall des Lichts, die Schatten gestalteten sich um, und eine Stimme rief unsicher: »Quickening?«
Walker Boh atmete auf. Es war Morgan Leah.
Sie schüttelten sich die Hände zur Begrüßung. Quickening umarmte den durchnäßten, zerzausten Hochländer und küßte leidenschaftlich sein Gesicht ab. Walker schaute zu, ohne etwas zu sagen, längst der Zuneigung der beiden zueinander gewahr, und doch überrascht, daß Quickening es zuließ. Er sah, wie sie die Augen schloß, als Morgan sie im Arm hielt, und glaubte zu verstehen. Sie erlaubte sich zu fühlen, denn es war alles noch neu für sie. Sie war nicht älter als die Zeit seit ihrer Erschaffung, und selbst wenn ihr Vater ihr menschliche Gefühle eingegeben hatte, so hatte sie sie doch bisher noch nicht selber erlebt. Walker empfand eine seltsame Traurigkeit für sie. Sie gab sich so schreckliche Mühe zu leben.