»Walker.« Morgan kam auf ihn zu, einen Arm noch immer um das Mädchen geschlungen. »Ich habe überall gesucht. Ich dachte, euch sei auch etwas zugestoßen.«
Er berichtete ihnen, was Horner Dees und ihm widerfahren war, wie sie durch die Falltüre auf die Rutsche gestürzt waren und zu ihrem Entsetzen mit dem schlafenden Malmschlund direkt unter sich konfrontiert gewesen waren. Seine Augen waren wild und leuchtend, als er beschrieb, wie es ihm irgendwie gelungen war, die Magie des Schwertes von Leah, die er für verloren gehalten hatte, noch einmal freizusetzen.
Mit ihrer Hilfe waren sie entkommen. Für die Nacht hatten sie Zuflucht in der Nähe gesucht, und bei Tagesanbruch waren sie an die Stelle zurückgekehrt, wo sie die Gefährten verlassen hatten. Doch sie hatten das Gebäude leer gefunden und keinerlei Hinweis darauf, daß irgendwer zurückgekommen war. In Sorge um Quickening – um sie alle, beeilte er sich, hinzuzufügen – hatte er Dees zurückgelassen, um auf sie zu warten, und war allein auf die Suche gegangen.
»Horner Dees war bereit, ebenfalls mitzukommen, aber ich habe es nicht zugelassen. Die Wahrheit ist, daß er sich nie wieder bewegen würde, wenn das möglich wäre – zumindest bis es Zeit ist, von hier fortzugehen.« Der Hochländer grinste breit. »Er hat die Nase voll von Eldwist und den Falltüren; er wünscht sich in das Bierhaus in Rampling Steep zurück!« Dann hielt er inne und schaute suchend an ihnen vorbei. »Wo ist Carisman?«
Jetzt waren sie an der Reihe, und Quickening berichtete mit ruhiger und seltsam tröstender Stimme die Ereignisse, die zum Tod des Sängers geführt hatten. Aber Morgan Leahs Gesicht war dennoch von Kummer und Zorn gezeichnet, als sie endete.
»Er hat nie irgendwas begriffen, nicht wahr?« sagte der Hochländer; die Emotion, die er im Inneren zurückhielt, drohte ihn zu ersticken. »Er verstand es einfach nie! Er glaubte, seine Musik sei ein Heilmittel für alles! So ein Unsinn!«
Er schaute einen Moment weg, um seinen Ausdruck zu verbergen, stützte die Hände herausfordernd in die Hüften, als ob Starrsinn irgend etwas an dem Geschehenen ändern könnte. »Wo gehen wir jetzt hin?« fragte er schließlich.
Walker schaute zu Quickening. »Wir glauben, daß Uhl Belk sich in der Kuppel verbirgt«, sagte das Mädchen. »Wir waren dabei, einen Eingang zu suchen, als die Urdas auftauchten. Wir sind auf dem Weg dorthin, um die Suche fortzusetzen.«
Morgan drehte sich um, sein Gesicht wieder gefaßt. »Dann komme ich mit. Horner ist besser dran, wenn er bleibt, wo er ist. Am Abend können wir dann wieder zu ihm gehen.« Der Blick, den er ihnen zuwarf, wirkte beinahe herausfordernd. »So sollte es ohnehin sein. Nur wir drei.«
»Komm mit, wenn du möchtest«, willigte Quickening ein und Walker nickte ohne Kommentar.
Sie machten sich wieder auf, drei vom Regen durchnäßte Gestalten, verloren in Nebel und Schatten. Walker ging voran, ein magerer, weißgesichtiger Geist in der Düsternis und der Anführer, weil Quickening einen Schritt hinter ihm blieb, um bei Morgan zu sein. Er krümmte seine schmalen Schultern gegen das Wetter, spürte den beißenden Wind, der in Böen fegte, und fühlte, wie die Leere in seinem Inneren ihn zu verschlingen drohte. Er fühlte in diese Leere und versuchte, einen Teil seiner Magie zu erfassen, eine Kraft, auf die er sich verlassen könnte. Sie entzog sich ihm wie eine Schlange auf der Flucht. Er spähte nach vorn durch den dünnen Regenschleier und beobachtete die Schatten, die hinter dem Licht herjagten. Das Gespenst seines Schicksals lauerte auf ihn, ein schwacher Schimmer in einer Pfütze, ein Nebelfetzen in einem Eingang, ein Dunkeln des Steins, wo die Nässe wie ein Spiegel wirkte. Und immer trug es Allanons Gesicht.
Die Straße endete, und die dunkle Wölbung der Kuppel erhob sich vor ihnen wie die Schale eines schlafenden Krebses. Die drei traten vom Gehsteig und standen vor dem Bauwerk, winzig vor seiner Größe. Walker starrte wortlos auf die Kuppel. Ihm war bewußt, das Quickening und Morgan auf ihn warteten, bewußt, daß auch etwas anderes auf ihn wartete. Es. Die Präsenz, die er zuvor wahrgenommen hatte, war wieder da, hier stärker, bereiter, sicherer. Und beobachtend. Walker rührte sich nicht. Er fühlte Augen von überall her auf sich gerichtet, als gäbe es keinen Ort, an den er ungesehen fliehen könnte. Der Stein der Stadt trug ihn, doch vermochte sich auch ohne Vorwarnung um ihn schließen und ihm sein Leben herausquetschen. Die Präsenz wollte, daß er das wußte. Sie wollte, daß er wußte, wie unbedeutend er war, wie unnütz seine Suche und wie überflüssig sein Leben. Es fiel über ihn her, drückte auf ihn nieder wie der Nebel und der Regen. Geh nach Hause, hörte er es sagen. Geh, solange du es noch kannst.
Er ging nicht. Er trat nicht einmal zurück. Er war in seinem Leben oft genug bedroht worden, hatte genügend Finsteres gesehen, das durchs Land streifte, um zu erkennen, wann er getestet wurde. Es war nicht ein Versuch, ihn zu zerschmettern; es war hänselnd und vorgetäuscht, als sei es dazu gedacht, den gegenteiligen Effekt zu erzielen. Geh nicht wirklich fort, schien es zu sagen. Aber denk daran, daß man es dir geraten hat.
Walker Boh trat vor eine Stelle, wo die Wand zwischen den Steinbändern am breitesten war. Der Tod strich an ihm vorbei, ein leichtes Sprühen, von Regen und Wind getragen. Es war absurd, doch er fühlte Cogline dicht neben sich. Der Geist des alten Mannes war aus der Asche von Hearthstone auferstanden und gekommen, um seinen Schüler beim Praktizieren des Handwerks, das er ihn gelehrt hatte, zu beobachten, gekommen vielleicht, um zu urteilen, wie gut er es handhabte. Du wirst nie frei sein von der Magie, hörte Walker ihn sagen. Er betrachtete eine Weile die zerklüftete, verwitterte Oberfläche der Mauer, beobachtete das Regenwasser, das sich in unregelmäßigen, silbrigen Rinnsalen, glitzernd wie Quickenings Haarsträhnen, nach unten schlängelte. Noch einmal tauchte er in sein Inneres nach der Magie, und diesmal bekam er sie zu fassen. Er zog ihre Kraft um sich wie eine Rüstung, panzerte sich mit ihr, als wolle er der steinernen Mauer ebenbürtig sein, und dann streckte er seine Hand aus und drückte mit den Fingern gegen den Stein.
Er fühlte, wie die Magie m ihm aufstieg, wie sie heiß wie Feuer aus seiner Brust in seinen Arm flutete, in seine Finger, in …
Es gab ein Beben, und der Stein vor ihm wich, zuckte zurück, als sei es menschliches Fleisch, das gebrannt wurde. Es gab ein langgezogenes, dumpfes Knirschen, das Geräusch von Stein, der über Stein schabt, und einen schrillen Schrei, als sei Leben dazwischengeklemmt. Quickening kauerte sich nieder wie ein erschreckter Vogel, ihr Silberhaar nach hinten geworfen, ihre Augen leuchtend und seltsam lebhaft. Morgan Leah zog in einer einzigen, schnellen Geste sein Breitschwert, das er über den Rücken geschnallt trug.
Die Mauer vor ihnen öffnete sich – nicht wie eine Tür, die aufschwang, oder ein Paneel, das sich hob, sondern wie ein Lappen, der entzweigerissen wird. Sie öffnete sich weit vom Fundament bis zum Scheitel wie ein Maul, das gefüttert werden will. Als die Öffnung sieben Meter breit war, stoppte sie, unbeweglich, mit einem glatten steinernen Rahmen, der aussah, als sei er schon immer dort gewesen und gehöre eindeutig hierher.
Ein Eingang, dachte Walker Boh. Genau das, was sie gesucht hatten.
Quickening und Morgan Leah standen erwartungsvoll neben ihm. Er sah keinen der beiden an. Er hielt seinen Blick in die Öffnung gerichtet, in die Finsternis und das Meer undurchdringlicher Schatten. Er suchte und lauschte, doch nichts gab sich preis.
Doch wußte er, was dort wartete.
Carismans Stimme sang leise in seinem Geiste. Komm nur herein, sagte die Spinne zur Fliege. Mit dem Mädchen und dem Hochländer an seiner Seite nahm er die Einladung an.
25
Schatten umfingen sie fast augenblicklich, Schichten von Finsternis, die wenige Meter innerhalb der Kuppel begannen und alles, was jenseits lag, vollständig umhüllten. Unter Walkers Führung wurden sie langsamer, warteten, daß ihre Augen sich gewöhnten, und lauschten dem hohlen Echo ihrer Schritte, das in der Ferne verklang. Dann blieb nur noch das Geräusch ihres Atems. Hinter ihnen bildete das fahle, graue Tageslicht einen dünnen Faden, der sie mit der Außenwelt verband, und kurz darauf war auch er zerrissen. Wieder schabte Stein auf Stein, und die Öffnung, die ihnen den Eintritt erlaubt hatte, verschloß sich wieder. Niemand rührte sich, um es zu verhindern; sie hatten es in der Tat alle drei erwartet. In der darauffolgenden Stille standen sie zusammen, jeder der beruhigenden Gegenwart der anderen gewahr, jeder bemüht, irgendein Geräusch zu vernehmen, das eine Bewegung verraten hätte, jeder wartend, daß ein Mindestmaß an Sicht zurückkam. Das Gefühl von Leere war absolut. Das Innere der Kuppel fühlte sich an wie ein gigantisches Grab, in dem sich seit Jahrhunderten nichts Lebendes mehr bewegt hatte. Die Luft roch abgestanden und modrig ohne irgendwelche vertrauten Gerüche, und es war kalt, ein eisiger Frost, der durch Mund und Nase drang und sich sofort bis in die Magengrube fortsetzte und dort blieb. Sie begannen fast augenblicklich zu zittern. Selbst in der undurchdringlichen Finsternis kam es Walker Boh vor, als könne er die Wolken seines Atems sehen.