Die Sekunden verstrichen, Herzschläge in der ungebrochenen Stille. Die drei Gefährten wartete geduldig. Irgend etwas würde geschehen. Irgendwer würde erscheinen, es sei denn, sie seien in die Kuppel gelockt worden, um getötet zu werden, spekulierte Walker in der Stille seiner Gedanken. Aber er glaubte nicht, daß das der Fall sei. Nein, er glaubte nicht mehr wie zu Beginn, daß irgendeine Anstrengung gemacht würde, sie zu eliminieren. Der Charakter ihrer Beziehung zu Eldwist legte bei näherer Betrachtung nahe, daß die Stadt sich auf unpersönliche Weise von Eindringlingen befreite, doch daß sie keine besonderen Anstrengungen machte, falls das nicht sofort klappte. Eldwist verließ sich nicht auf Geschwindigkeit, es baute auf das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Früher oder später würden Eindringlinge einen Fehler machen. Sie würden unvorsichtig werden, und entweder die Falltüren oder der Kratzer würde sie erledigen. Walker war zu wetten bereit, daß Quickening mit ihrer Annahme, der Steinkönig sei sich ihrer Anwesenheit in der Stadt nicht einmal bewußt gewesen, recht gehabt hatte – und selbst wenn er es gewußt hatte, so hatte er sich nicht darum geschert. Erst als Walker Magie gegen die Mauern seiner Behausung eingesetzt hatte, hatte er sich aufgerafft. Nicht einmal das Einsetzen von Magie gegen den Kratzer hatte ihn interessiert. Aber nun, glaubte Walker, war er neugierig geworden, und das war der Grund, warum sie hereingelassen worden waren..
Walker riß sich zusammen. Ihm war etwas entgangen. Nichts würde geschehen, wenn sie einfach nur dort in der Finsternis stehenblieben, nichts, wenn sie den ganzen Tag und auch den nächsten einfach nur warteten. Der Steinkönig hatte sie aus einem bestimmten Grund hereingelassen. Er hatte sie eingelassen, um zu sehen, was sie tun würden.
Oder vielleicht auch, was sie tun konnten.
Er streckte seinen Arm aus und faßte erst Morgan und dann Quickening an und beugte ihre Köpfe sanft an seinen eigenen. »Was immer geschieht, Quickening«, flüsterte er dem Mädchen zu, so leise, daß seine Stimme fast nicht zu hören war. »Denk daran, daß du geschworen hast, nichts zu tun, das erkennen lassen könnte, daß du über irgendwelche Magie verfügst.«
Dann ließ er sie los, trat zur Seite, hob die Hand, schnippte mit den Fingern und ließ eine silberne Flamme aufleuchten.
Sie schauten sich um. Sie befanden sich in einem Gang, der ein kleines Stück weit zu einer Öffnung führte. Die Flamme in die Höhe haltend, führte Walker sie voran. Als sie das Ende des Ganges erreichten, löschte er die Flamme, rief seine Magie ein zweites Mal an und sandte ein silbriges Feuerwerk in die Finsternis.
Walker atmete heftig ein. Der Lichterregen sprühte ins Unbekannte, brannte durch die Schatten, jagte sie vor sich her und stieg in die Höhe, bis alles rundum erhellt war. Sie standen am Eingang zu einer weitläufigen Rotunde, einer Arena, von Reihe über Reihe von Sitzen umgeben, die sich nach oben ins Dunkel fortsetzten. Die Decke der Kuppel wölbte sich über ihren Köpfen, ihre steinernen Sparren bogen sich von ihrem Scheitel hinauf, und ein Geländer umfaßte die Arena. Die Arena und die Ränge waren wie die Sparren aus Stein, alt und abgenutzt von der Zeit, hart und glatt vor der Dunkelheit, die sie einhüllte. Mehrere Gänge, ähnlich dem, durch den sie gekommen waren, öffneten sich zwischen den Rängen, schwarze Löcher, die ins Schwarze führten.
Genau in der Mitte der Arena stand eine steinerne Statue, ein in Gedanken versunkener Mann, roh gehauen und kaum als solcher erkennbar.
Walker wartete ab, bis das Licht sich niedergelassen hatte und alles aufhellte. Die Kuppel war weit und leer, still, abgesehen von ihren Schritten, scheinbar ohne jegliches Leben außer dem ihren. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Morgan vorwärtsstürmen wollte, und er streckte eilig die Hand aus, um ihn zurückzuhalten. Quickening trat hinzu und faßte den Hochländer schützend am Arm. Walker ließ seinen Blick durch die Arena gleiten, über die schwarzen Tunnellöcher, die Ränge, die sie umrahmten, die Sparren und die Kuppeldecke und dann wieder die Arena. Als er wieder bei der Statue angekommen war, hielt er still. Nichts rührte sich. Doch etwas war da. Er konnte es fühlen, stärker als vorher, die gleiche Präsenz, die er wahrgenommen hatte, als sie noch draußen waren.
Langsam und vorsichtig trat er vor. Morgan und Quickening folgten ihm. Er hatte im Augenblick das Kommando, und Quickenings Unterwerfung war irgendwie ein Eingeständnis ihrer Not. Sie durfte ihre Magie nicht einsetzen. Sie mußte sich auf ihn verlassen. Er empfand eine ungeahnte Willenskraft aufgrund der Tatsache, daß sie sich von ihm abhängig gemacht hatte. Da war jetzt keine Zeit für ein Abgleiten, für Selbstzweifel oder für die Ungewißheit, wer oder was er zu sein bestimmt war. Eine wilde Entschlußkraft loderte in ihm auf. Es war besser so, erkannte er, besser, das Kommando zu haben, die Verantwortung für das zu tragen, was geschehen würde. So war es immer gewesen. Und in diesem Augenblick erkannte er zum ersten Mal in seinem Leben, daß es auch immer so sein würde.
Die Statue ragte direkt über ihnen in die Höhe, ein massiver Steinblock, der dem Licht, das Walker heraufbeschworen hatte, um die Dunkelheit zu vertreiben, zu trotzen schien. Der Denker war von ihnen abgewandt, eine knorrige, plumpe Gestalt, halb kniend, halb sitzend, einen Arm über den Bauch gelegt, der andere war zu einer Faust geballt und stützte das Kinn. Es mochte die Absicht bestanden haben, daß er einen Umhang übergeworfen hatte, oder er mochte einfach von Haaren bedeckt sein; es war unmöglich, es zu unterscheiden. Es gab keine Inschrift auf dem Sockel, auf dem er ruhte; überhaupt war es ein seltsamer Sockel, der mit den Beinen der Statue verbunden war, als sei der Stein vor langer Zeit einfach zusammengeschmolzen.
Sie erreichten die Statue und begannen, sie zu umkreisen. Das Gesicht kam langsam in Sicht. Es war das Gesicht eines Monsters, verwüstet und zernarbt, eine Masse aus Knoten und Wucherungen, völlig mißgestaltet wie eine halbvollendete und dann aufgegebene Skulptur. Steinerne Augen glotzten starr unter grimmigen Brauen hervor. Grauen stand in dem Ausdruck des Monsters geschrieben; Dämonen waren in seinen Zügen gefangen, die sich nie mehr entfernen ließen. Walker wandte sich unbehaglich ab und spähte prüfend in die Schatten der Kuppel. Stille blinzelte ihm entgegen.
Plötzlich blieb Quickening stehen, erstarrte auf der Stelle wie ein erschrecktes Reh. »Walker«, hauchte sie leise.
Sie schaute zu der Statue hinauf. Walker schnellte herum wie eine Katze und folgte ihrem Blick.
Die Augen der Statue hatten sich ihm zugewandt und fixierten ihn.
Er hörte das metallene Geräusch von Morgans Klinge, als sie aus der Scheide glitt.