– Du bist mehr, als du zu sein vorgibst; ich lasse mich nicht täuschen; doch es spielt keine Rolle; mir ist egal, wer oder was du bist oder was du willst; ich habe dich vorgelassen, um dich zu prüfen; die Magie, mit der du mich angerührt hast, machte mich aufmerksam und neugierig, wer du sein mochtest; aber ich brauche nichts von dir; ich brauche nichts von irgendeinem lebendigen Ding; ich bin vollständig; stelle mich dir als das Land vor, auf dem du gehst, und dich selbst als den winzigsten aller Flöhe, der auf mir lebt; wenn du lästig wirst, werde ich dich auf der Stelle eliminieren; wenn du den heutigen Tag überlebst, so wirst du voraussichtlich den nächsten nicht überleben –
Er runzelte die gewaltige Stirn, und sein knotiges Gesicht formte neue Kluften und Falten.
– Was bin ich, wenn nicht die Gesamtheit deiner Existenz; schau um dich, und ich bin alles, was du siehst; schau, wo auch immer in Eldwist du stehst, und ich bin alles, was du berührst; ich habe mich selbst so gemacht; ich habe mich eins gemacht mit dem Land, das ich erschaffe; ich bin frei von allem anderen und werde es immer sein –
Plötzlich ging Walker Boh ein Licht auf. Uhl Belk war kein Lebewesen im üblichen Sinne. Er war nicht einmal ein Geist wie der König vom Silberfluß. Uhl Belk war mehr als die Statue, die vor ihnen kauerte. Er war alles, auf dem sie gingen; er war das gesamte Königreich von Eldwist. Der Stein war seine Haut, hatte er gesagt – ein Stück seines lebendigen Ichs. Er hatte einen Weg gefunden, sich selbst in alles, was er erschuf, einzuflößen, und damit eine Beständigkeit zu gewährleisten, die ihm nichts anderes bieten konnte.
Doch das hieß gleichzeitig, daß er ein Gefangener war. Deshalb war er nicht aufgestanden, um sie zu begrüßen oder sie zu jagen oder in irgendeiner Weise selbst in das, was sie taten, einzugreifen. Das war der Grund, warum seine Beine tief in den Stein gesunken waren. Er war jenseits von Bewegung. Bewegung war etwas für niedere Geschöpfe. Er hatte sich zu etwas Großartigem entwickelt; er war seine eigene Welt geworden. Und die hielt ihn gefangen.
»Aber du bist nicht frei, oder?« fragte Quickening mutig. »Wenn du frei wärest, würdest du uns den schwarzen Elfenstein geben, denn dann würdest du ihn nicht wirklich brauchen.« Ihre Stimme war hart und beharrlich. »Aber das kannst du nicht riskieren, Uhl Belk, nicht wahr? Du brauchst den schwarzen Elfenstein, um am Leben zu bleiben. Ohne ihn würde der Malmschlund dich kriegen.«
– Nein –
»Ohne ihn würde der Malmschlund dich zerstören.«
– Nein –
»Ohne ihn …«
– Nein –
Eine steinerne Faust krachte nieder, haarscharf an dem Mädchen vorbei, zerschmetterte den Boden neben ihr und ließ ausgezackte Risse hundert Meter weit in alle Richtungen entstehen. Der Steinkönig bebte.
»Der Malmschlund ist dein Kind, Uhl Belk«, fuhr Quickening fort, aufrecht vor ihm stehend, als sei sie diejenige, die die Größe und die Macht hatte, und nicht der Steinkönig. »Aber dein Kind gehorcht dir nicht.«
– Du weißt gar nichts; der Malmschlund ist eine Ausdehnung meiner selbst wie alles in Eldwist; er hat kein Leben außer dem, welches ich ihm gebe; er dient meinen Absichten und keinen anderen, indem er das angrenzende Land und alles, was darauf wächst, in Stein verwandelt, die Beständigkeit meiner selbst –
Die schwarzen Augen des Mädchens glänzten. »Und der schwarze Elfenstein?«
In der Stimme des Steinkönigs schwang eine seltsame Mischung von Gefühlen mit, die sich nicht identifizieren lassen wollten.
– Der schwarze Elfenstein ermöglicht –
Das riesige Maul schloß sich knirschend, und der Steinkönig kauerte sich zusammen, faltete die Gliedmaßen um den Leib, als würden sie zu einem einzigen Felsblock.
»Ermöglicht?« hauchte Quickening leise.
Die toten, leeren Augen hoben sich.
– Schau –
Das Wort klang wie ein Splittern von des Steinkönigs Seele. Fels knirschte und malmte wieder, und die Kuppelwand hinter ihnen teilte sich. Graues, diesiges Tageslicht drang herein, als flüchte es vor dem gleichförmigen Regenvorhang, der draußen niederging. Wolken und Nebel trieben vorbei, wanden und schlängelten sich um die Gebäude, die sich im Hintergrund auftürmten, umhüllten sie wie eine Versammlung erstarrter Riesen, die geduldig Wache hielten. Ein grauenvoller Klagelaut drang aus dem Mund des Steinkönigs und füllte die Leere der Stadt mit dem Klang eines Blechs, das im Wind vibriert. Er stieg an und verklang schnell, doch sein Echo schien nie mehr aufhören zu wollen.
– Schau –
Sie hörten den Malmschlund, ehe sie ihn sahen. Sein Kommen kündigte sich mit einem Rumpeln tief unter den Straßen der Stadt an und wurde stetig lauter, je näher die Kreatur rückte, ein dumpfes Grollen, das sich zu wildem Getöse steigerte, alles erschütterte und die drei aus Rampling Steep in die Knie zwang. Der Malmschlund brach durch den Stein – Uhl Belks Haut – stieß direkt vor der der Kuppel ein riesiges Loch in den Boden, und sie starrten mit weit aufgerissenen Augen fassungslos durch die Öffnung. Sie sahen, wie der Steinkönig vor Schmerz zusammenzuckte. Der Malmschlund stieg auf, ein Koloß von ungeheuren Ausmaßen, der sogar die Gebäude spielzeugklein erscheinen ließ, wand sich wie eine Schlange, eine widerwärtige Kreuzung zwischen einem Regenwurm und einer Giftschlange, schleimige Flüssigkeit quoll aus seinem pechschwarzen, steinverkrusteten Leib, ohne Augen, ohne Kopf, sein Maul ein Saugschlund, der zuerst den Regen und dann auch die Luft zu trinken schien. Er füllte die Kuppelöffnung wie eine finstere Woge, die alles zu überrollen drohte.
Walker Boh überlief es eiskalt in fassungslosem Entsetzen. Der Malmschlund war nicht real; es war unmöglich, sich ein solches Wesen überhaupt auch nur auszudenken. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er fortrennen. Er sah Morgan Leah zurücktaumeln und auf die Knie fallen. Er sah Quickening erstarren. Er fühlte, wie seine eigene Kraft ihn verließ, und konnte sich kaum aufrechthalten. Der Malmschlund krümmte sich vor dem Himmel, eine riesige, rückgratlose, schwarze, schleimige Masse, der nichts standhalten konnte.
Doch der Steinkönig schwankte nicht. Er hob eine knotige Faust, die, mit der er sein Kinn gestützt und damit den Eindruck einer Statue vermittelt hatte, und langsam öffneten sich die Finger. Licht sprang hervor – doch es war ein Licht, wie es keiner von ihnen je gesehen hatte. Es strahlte zunächst in alle Richtungen, doch es erhellte nicht wie gewöhnliches Licht, sondern ließ alles, was es berührte, dunkel werden.
Das ist kein Licht, stellte Walker Boh fest und kämpfte gegen die Flut von Empfindungen an, die ihn zu überwältigen drohten. Das ist das Fehlen von Licht! Dann spreizte der Steinkönig die Finger weit, und sie konnten sehen, was er in der Hand hielt. Es war ein perfekt geformter Edelstein, so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht. Der Stein glitzerte mit den dünnen Strahlen des sich darin spiegelnden, grauen Tageslichts und ließ auch nicht die mindeste Spur davon ins Innere dringen. Er sah winzig aus in Uhl Belks gewaltiger Steinhand, doch die Dunkelheit, die er ausstrahlte, reichte bis in die hintersten Ecken der Kuppel, in ihre verborgensten Winkel, und umhüllte die Gesamtheit des von Walker ausgesandten Leuchtens, so daß innerhalb von Sekunden das einzige Licht durch den Spalt in der steinernen Haut der Kuppel einfiel.
Walker Boh fühlte, wie seine eigene Magie sich in ihm erkennend rührte.
Sie hatten den schwarzen Elfenstein gefunden.
Da stieß Uhl Belk einen Schrei aus, der sogar das Getöse des Malmschlunds, von Wind und Regen und Ozeanbrechern übertönte, und er streckte den schwarzen Elfenstein vor sich. Die Schwärze sammelte sich und bündelte sich zu einem einzigen Strahl, der hervorschoß und den Malmschlund traf. Der Malmschlund wehrte sich nicht. Er hing einfach dort. Wie festgenagelt. Ein Schaudern durchlief ihn – schmerzhaft und lustvoll gleichzeitig, geschüttelt von Gefühlen, die die Menschen, die vor ihm kauerten, nur ahnen konnten. Er wand sich, und die Schwärze wirbelte zur Antwort. Die Schwärze breitete sich aus, weitete sich, flutete über und wieder zurück, bis sie auch den Steinkönig umhüllte. Sie konnten ihn aufstöhnen hören, dann schluchzen, wieder mit Gefühlen, die in verschleierter Weise gemischt waren, nicht klar definiert und auch nicht so gedacht. Die Magie des Elfensteins vereinte sie, Vater und Sohn, jeder ein Monster, verbunden durch ein substanzloses Schloß, das sie fester verband als eine eiserne Kette.