Pe Ell aß die Frucht zu Ende und warf das Kerngehäuse fort. Er war nicht sicher, was er über diese unerwartete Enthüllung denken sollte. Aber er sagte sich, daß es nicht wirklich eine Rolle spielte. Wenigstens hatte er jetzt eine Ahnung, was ihn an Dees so beunruhigt hatte.
»Ich erinnere mich nicht an dich«, sagte er nach einer Weile. »Aber das ist auch egal.« Er drehte sein scharfgeschnittenes Gesicht aus dem Licht. »Nur, daß wir uns recht verstehen, Felsen-Dalls Pläne mit mir funktionierten auch nicht ganz so, wie er erwartet hatte. Ich tue, was ich will. Habe ich immer getan.«
Dees nickte. »Du bringst Leute um.«
Pe Ell zuckte mit den Schultern. »Manchmal. Hast du Angst?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht vor dir.«
»Gut. Wenn damit dieses Thema erledigt ist, laß uns zu dem anderen zurückkommen. Ich brauche ein bißchen Hilfe. Wärest du bereit?«
Horner Dees setzte sich mit einem Grunzen hin und starrte Pe Ell wortlos an; offenbar erwog er den Vorschlag. Pe Ell war das recht. Er hatte die Angelegenheit sorgfältig durchdacht, bevor er wieder herkam, hatte das Für und Wider seines Plans, allein in den Unterschlupf des Kratzers zu gehen oder Unterstützung zu erbitten, um herauszufinden, ob sich der Steinkönig dort verbarg oder nicht, gründlich durchdacht. Er hatte nichts zu verbergen, keine Absicht zu täuschen. Es war immer am besten, direkt und geradeheraus zu sein, wenn es möglich war.
Dees regte sich. »Ich traue dir nicht.«
Pe Ell lachte tonlos. »Ich habe dem Hochländer neulich gesagt, er sei ein Idiot, wenn er mir traute. Mir ist egal, ob du mir traust. Ich bitte dich nicht um dein Vertrauen, sondern um Hilfe.«
Dees war gegen seinen Willen neugierig. »Was für Hilfe?«
Pe Ell versteckte seine Befriedigung. »In der vergangenen Nacht bin ich dem Kratzer zu seinem Bau gefolgt. Ich sah ihn hingehen, wo er sich verbirgt. Ich glaube, es ist ziemlich wahrscheinlich, daß dort, wo der Kratzer sich versteckt, auch der Steinkönig sein Versteck hat. Wenn der Kratzer heute nacht losgeht, um durch die Straßen zu patrouillieren, habe ich die Absicht, mal nachzuschauen.«
Er rückte näher, um Dees in den Kreis seiner Vertraulichkeit zu bringen. »Es gibt einen Riegel an der Tür, durch die der Kratzer kommt. Wenn ich den betätige, mußte ich hineingehen können. Das Problem ist, was passiert, wenn die Tür hinter mir wieder zugeht? Wie komme ich dann wieder raus?«
Dees rieb sich sein bärtiges Kinn, wühlte in dem dichten Bart, als jucke es ihn. »Du willst also, daß dir jemand Rückendeckung gibt.«
»Ich glaube, daß ist vernünftig. Ich hatte vorgehabt, allein hineinzugehen, den Steinkönig aufzusuchen, ihn zu töten, wenn nötig, und den Stein zu nehmen. Das habe ich noch immer vor, aber ich will nicht Sorge haben müssen, daß der Kratzer sich von hinten anschleicht, wenn ich ihm den Rücken kehre.«
»Du willst also, daß ich für dich Wache halte.«
»Angst?«
»Das fragst du dauernd. Statt dessen mußte ich dich das fragen. Warum solltest du mir trauen? Ich kann dich nicht leiden, Pe Ell. Mir wäre es nur recht, wenn der Kratzer dich kriegte. Das macht mich zu einem schlechten Kandidaten für diesen Job, meinst du nicht?«
Pe Ell streckte seine Beine aus und lehnte seinen mageren Körper zurück gegen die Wand. »Nicht unbedingt. Du brauchst mich nicht zu mögen. Ich brauche dich nicht zu mögen. Und ich mag dich nicht. Aber wir wollen beide das gleiche – den schwarzen Elfenstein. Wir wollen dem Mädchen helfen. Es sieht nicht so aus, als ob einer von uns allein viel erreichen könnte – auch wenn ich größere Chancen habe als du. Der Punkt ist, wenn du mir dein Wort gibst, für mich Wache zu schieben, nehme ich an, daß du das dann auch tun wirst. Weil dir dein Wort was bedeutet, oder?«
Dees lachte trocken. »Erzähl mir doch nicht, daß ausgerechnet du an mein Ehrgefühl appellierst. Ich glaube nicht, daß ich das verdauen könnte.«
Pe Ell lächelte nicht mehr. »Ich habe meinen eigenen Ehrenkodex, Alter, und der ist mir ebenso wichtig wie dir der deine. Wenn ich mein Wort gebe, halte ich es. Das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können. Ich sage dir, daß ich auf dich aufpassen werde, wenn du auf mich aufpaßt – nur bis dieses Geschäft erledigt ist. Danach sind wir wieder jeder für sich selbst verantwortlich.« Er legte den Kopf zur Seite. »Die Zeit rennt. Wir müssen bei Sonnenuntergang an Ort und Stelle sein. Kommst du mit oder nicht?«
Horner Dees nahm sich Zeit für die Antwort. Pe Ell wäre überrascht und mißtrauisch gewesen, hätte er es nicht getan. Was immer Dees auch sonst sein mochte, er war ein ehrlicher Mann, und Pe Ell war überzeugt, daß er sich auf kein Abkommen einlassen würde, dem er nicht entsprechen konnte. Pe Ell vertraute Dees; er hätte den alten Mann nicht um Rückendeckung gebeten, wenn er es nicht täte. Und außerdem hielt er Dees für fähig, fähiger als alle anderen. Er war nicht unerfahren wie der Hochländer oder leichtsinnig wie Carisman. Noch war er so unberechenbar wie Walker Boh. Dees war nicht mehr und nicht weniger, als was er zu sein schien.
»Ich habe den Hochländer über dich aufgeklärt«, erklärte Dees und schaute ihn dabei an. »Inzwischen wird er es den anderen gesagt haben.«
Pe Ell zuckte wieder einmal mit den Schultern. »Das ist mir egal.« Und das war es auch.
Dees lehnte seine massige Gestalt nach vorn und blinzelte in das fahle graue Licht. »Wenn wir den Stein in die Hand bekommen, einer oder der andere, bringen wir ihn dem Mädchen. Dein Wort darauf.«
Pe Ell lächelte gegen seinen Willen. »Du würdest mein Wort akzeptieren, Alter?«
Dees Züge waren hart und bestimmt. »Wenn du es brichst, verlaß dich drauf, daß ich dafür sorgen werde, daß du es bereust.«
Pe Ell glaubte ihm. Horner Dees mochte alt und verbraucht sein, verwittert aussehen und die Spuren der Zeit tragen, er blieb ein gefährlicher Gegner. Ein Fährtensucher, ein Mann des Waldes und ein Jäger. Er hatte sich lange am Leben gehalten. In einem direkten Kampf mochte er Pe Ell nicht gewachsen sein, doch es gab andere Wege, einen Mann zu töten. Pe Ell lächelte innerlich. Wer wußte das besser als er?
Pe Ell streckte die Hand aus und wartete, bis der alte Mann sie nahm. »Wir haben ein Abkommen«, sagte er. Ihre Hände schlossen sich für einen Augenblick fest umeinander und lösten sich dann wieder. Pe Ell sprang geschmeidig wie eine Katze auf die Füße.
»Auf geht’s.«
Sie verließen das Zimmer und stiegen, Pe Ell voran, die Treppen hinunter. Draußen dämmerte es schon. Sie krümmten ihre Schultern unter den Umhängen gegen den Regen und machten sich auf den Weg. Pe Ells Gedanken wanderten zu seinem Handel. Es war einfach, ihn abzuschließen. Er würde dem Mädchen den Elfenstein geben, denn wenn er es nicht tat, riskierte er, sie ganz zu verlieren und für alle Ewigkeit von ihnen allen verfolgt zu werden.
Laß deine Feinde niemals am Leben, denn sonst verfolgen sie dich, dachte er.
Bring sie lieber alle um, sobald du die Gelegenheit dazu hast.
Das Tageslicht schwand schnell, als Walker, Morgan und Quickening sich schließlich dem Gebäude näherten, das Horner Dees und Pe Ell weniger als eine Stunde zuvor verlassen hatten. Der stetige Regen bildete einen dunklen Vorhang, der die großen, düsteren Häuser der Stadt einhüllte, den Himmel, die Berge und das Meer versteckte. Morgan hatte seinen Arm schützend um die Schultern des Mädchens gelegt und seinen Kopf zu ihr hinuntergebeugt, zwei undeutliche Kapuzengestalten im Nebel. Walker hielt sich abseits, ließ die beiden miteinander allein. Er sah, wie sich Quickening an den Hochländer lehnte. Sie schien seine Umarmung willkommen zu heißen, eine ganz untypische Reaktion. Irgend etwas war bei der Konfrontation mit dem Steinkönig mit ihr geschehen, das ihm entgangen war, und er begann erst jetzt zu begreifen, was es war.
Am Ende des Gehsteigs überflutete ein breiter Regenwasserstrom einen Abfluß und bildete einen tiefen See, und Walker war gezwungen, einen Bogen darum zu machen. Er führte noch immer an, seine Gestalt von Regen und Dämmerung verdunkelt. Ein Gespenst vielleicht, dachte er. Nein, korrigierte er sich, ein Finsterweiher. Er hatte schon lange nicht mehr an den Finsterweiher gedacht. Die Erinnerung war zu schmerzlich, um sie aus dem Winkel seines Bewußtseins, wohin er sie verbannt hatte, hervorkommen zu lassen. Der Finsterweiher mit seinen verschrobenen Rätseln war es gewesen, der ihn zur Halle der Könige und seiner Begegnung mit dem Asphinx geführt hatte. Es war der Finsterweiher, der ihn seinen Arm gekostet hatte, seinen Geist und etwas, das er einmal war. Verwundet an Leib und Seele – so sah er sich selbst. Der Finsterweiher würde frohlocken, wenn er es wüßte.