Ihre Augen suchten die seinen. »Ich lerne noch immer.«
»Widerwillig. Als du dem Steinkönig gegenübertratst, hattest du es eilig, ihm den Grund deines Kommens mitzuteilen. Du sagtest ihm alles; du hast nichts versteckt. Nicht den geringsten Versuch einer Täuschung oder List. Doch als Uhl Belk deine Bitte abschlug – was du sicherlich schon vorher wußtest –, wurdest du zornig, beinahe …« Er suchte nach dem passenden Wort. »Beinahe rasend«, sagte er dann. »Das war das erste Mal, seit ich dich kenne, daß du dir gestattet hast, deine Gefühle offen zu zeigen, ohne dich darum zu kümmern, wer dich dabei sieht.«
Er sah ein Flackern des Verstehens in ihren Augen. »Dein Zorn war echt, Quickening. Er war Ausdruck deines Kummers. Ich glaube, du wolltest, daß Uhl Belk dir den schwarzen Elfenstein gibt, weil du überzeugt bist, daß etwas geschehen wird, wenn er es nicht tut. Ist das so?«
Sie zögerte, hin und her gerissen, dann atmete sie langsam und gequält aus. »Ja.«
»Du glaubst, daß wir den Elfenstein erlangen werden. Ich weiß, daß du es glaubst. Du glaubst es, weil dein Vater gesagt hat, daß es so sein wird.«
»Ja.«
»Aber du glaubst auch, wie er dir gesagt hat, daß es die Magie jener braucht, die du mitgenommen hast, um ihn zu bekommen. Keine Worte, keine Überredungskünste werden Uhl Belk dazu bringen, ihn herzugeben. Und dennoch meintest du, du müßtest es versuchen.«
Ihre Augen wurden feucht. »Ich habe Angst …«, sagte sie mit erstickter Stimme.
Er beugte sich näher. »Wovor? Sag es mir.«
Morgan Leah erschien in der Tür. Er blieb stehen, wartete, daß Walker Boh sich von Quickening entfernte, und kam dann herein. »Nichts«, sagte er. »Keine Spur von Horner. Inzwischen ist es dunkel, und der Kratzer dürfte wieder unterwegs sein. Ich werde die Suche auf morgen verschieben müssen.« Er trat neben sie. »Gibt es irgendein Problem?« fragte er leise.
»Nein«, sagte Quickening.
»Ja«, sagte Walker.
Morgan riß die Augen auf. »Worum geht es?«
Walker Boh fühlte, wie sich die Schatten des Zimmers zusammenzogen, als sei die Dunkelheit plötzlich hereingekommen, um sie dort einzufangen. Der Hochländer, der Dunkle Onkel und das Mädchen standen da und schauten einander an. Es war, als seien sie an einen Scheideweg gelangt, als müßten sie nun einen Pfad wählen, von dem es kein Zurück mehr gab, als müßten sie eine Entscheidung treffen, vor der sie nicht ausweichen konnten.
»Der Steinkönig …«, begann Quickening.
»Wir gehen zurück, um den schwarzen Elfenstein zu holen«, sagte Walker Boh.
Kaum mehr als einen Kilometer entfernt wartete Horner Dees an einem Fenster im zweiten Stock eines Hauses gegenüber dem Unterschlupf des Kratzers darauf, daß der Schleicher auftauchte. Sie waren schon geraume Zeit auf ihrem Posten, hatten sich sorgfältig im Schatten versteckt und warteten mit der Geduld erfahrener Jäger. Der Regen hatte endlich aufgehört und sich in Nebel umgewandelt, als die Luft kühler und ruhiger wurde. Feiner Dampf stieg in Fetzen vom Stein der Straßen auf und ringelte sich schlangengleich empor. Von irgendwo tief unter der Erde drang das ferne Rumpeln des erwachenden Malmschlunds.
Pe Ell dachte an die Menschen, die er ermordet hatte. Es war seltsam, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wer sie waren. Eine Zeitlang hatte er sie noch gezählt, zuerst aus Neugier, später aus Gewohnheit, aber irgendwann waren es ihrer so viele und über so lange Zeit, daß er einfach den Überblick verlor. Zu Anfang waren die Gesichter noch klar gewesen, dann hatten sie angefangen, miteinander zu verschwimmen und dann ganz und gar zu verblassen. Jetzt kam es ihm vor, als könne er sich nur noch an den ersten und den letzten genau erinnern.
Die Tatsache, daß seine Opfer jegliche Identität eingebüßt hatten, war beunruhigend. Es legte nahe, daß er dabei war, die Schärfe seines Verstandes zu verlieren, die er für seine Arbeit brauchte. Es wies darauf hin, daß er das Interesse zu verlieren begann.
Er starrte in die schwarze Nacht hinaus, und eine ungewohnte Müdigkeit überfiel ihn.
Gereizt zwang er die Müdigkeit fort. Es würde anders sein, versprach er sich, wenn er das Mädchen tötete. Er mochte die Gesichter jener anderen aus Rampling Steep vergessen, den Einarmigen, den Hochländer, den Sänger und diesen alten Fährtensucher, schließlich war es nichts als eine Notwendigkeit, sie umzubringen. Aber Quickening würde er nie vergessen. Sie zu töten war eine Frage von Stolz. Sogar jetzt konnte er sie sich so genau vorstellen, als sitze sie neben ihm, die sanften Kurven der Haut über ihren Knochen, die Neigung ihres Kopfes, wenn sie zu ihm sprach, die Art und Weise, wie ihre Augen ihn aufsaugten, die Gesten ihrer Hände, wenn sie sich bewegte. Sie war ohne Zweifel das wundersamste Geschöpf, bezaubernd in einer Weise, die jeglicher Beschreibung trotzte. Sie besaß die Magie des Königs vom Silberfluß, so alt wie das Leben selbst. Er wollte diese Magie schlürfen, wenn er sie tötete; er hielt das für durchführbar. Und sobald er das getan hätte, wäre sie ein Teil von ihm, lebte in seinem Inneren, eine stärkere Präsenz als die unauslöschlichste aller Erinnerungen, die sich in ihm offenbaren würde, wie nichts anderes es könnte.
Neben ihm bewegte Horner Dees sich leise, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. Pe Ell war noch immer tief in seine eigenen Gedanken versunken und schaute nicht hinüber. Er hielt seinen Blick starr auf die glatte Oberfläche des versteckten Eingangs auf der anderen Straßenseite gerichtet. Die Schatten, die ihn umhüllten, blieben still und reglos.
Was würde wohl geschehen, wenn er die Klinge des Stiehls in ihren Körper rammte, überlegte er. Was würde er in diesen bodenlos schwarzen Augen lesen? Was würde er fühlen? Die Vorfreude auf diesen Augenblick brannte wie Feuer in ihm. Er hatte seit einiger Zeit nicht mehr an ihre Ermordung gedacht, weil ihm keine andere Wahl blieb, als abzuwarten und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen, wenn er sich den schwarzen Elfenstein sichern wollte. Doch jetzt war der Augenblick nicht mehr fern, glaubte er. Sobald er in den Unterschlupf des Kratzers eingedrungen wäre, das Versteck des Steinkönigs gefunden, sich den Besitz des schwarzen Elfensteins gesichert und Horner Dees beiseite geschafft hätte …
Er zuckte zusammen.
Trotz seiner Bereitschaft erschrak er, als sich gegenüber die Steinplatte hob und der Kratzer erschien. Schnell verdrängte er alle weiteren Gedanken an Quickening. Der dunkle Leib des Schleichers glitzerte, wo die dünnen Lichtstrahlen der Sterne, die es geschafft hatten, durch die Wolkendecke zu dringen, sich auf den Panzerplatten spiegelten. Das Monster trat aus der Öffnung und blieb dann stehen, als sei es auf etwas aufmerksam geworden. Die Fühler wedelten prüfend durch die Luft, der Peitschenschwanz zuckte. Die zwei Männer duckten sich noch tiefer in den Schatten ihres Verstecks. Der Schleicher verweilte noch einen Moment reglos, dann schien er befriedigt, drehte sich um und betätigte den Riegel über seinem Kopf. Die Steinplatte glitt geräuschlos an ihren Platz. Der Kratzer wandte sich um und watschelte in den Nebel und die Finsternis davon, seine eisernen Beine schlurften über den Boden wie lockere Ketten.
Pe Ell wartete, um sicherzugehen, daß das Biest wirklich fort war, dann winkte er Horner Dees, ihm zu folgen. Gemeinsam glitten sie auf die Straße hinaus, überquerten sie und blieben vor dem Unterschlupf des Kratzers stehen. Dees holte ein Seil mit einem Kletterhaken hervor und schleuderte ihn über einen steinernen Vorsprung über die Geheimtür. Der Anker traf mit einem dumpfen Klirren auf und hielt. Dees prüfte das Seil, nickte und reichte Pe Ell das Ende. Pe Ell kletterte mühelos hinauf, bis er auf der Höhe des Riegels angekommen war. Er betätigte ihn, und das Paneel begann sich zu heben. Pe Ell ließ sich flink zu Boden gleiten, und mit Horner Dees an seiner Seite beobachtete er, wie der finstere Keller des Gebäudes in Sicht kam.
Vorsichtig schlichen sie hinein.
Hinter dem Eingang herrschte tiefste Finsternis. Fahles graues Licht fiel von den höher gelegenen Fenstern durch Löcher in den verrotteten Fußböden und beleuchtete kleine Flecken in der Schwärze. Kein Geräusch war von drinnen zu hören. Nichts rührte sich.