Morgan betrachtete Walkers Gesicht eine lange Weile, überdachte die Angelegenheit trotz seines Widerwillens, daran zu glauben, daß irgendeine Erfolgschance bestand, und war sich bewußt, daß Quickenings Augen die ganze Zeit auf ihn gerichtet waren. Er hatte immer an Walker Bohs Fähigkeit geglaubt, Dinge vernünftig zu durchdenken, wenn andere dazu nicht in der Lage waren. Er war derjenige gewesen, der Par und Coll Ohmsford geraten hatte, ihren Onkel aufzusuchen, als sie wegen der von Allanon gesandten Träume Rat brauchten. Er hatte Angst vor dem, was der Dunkle Onkel vorschlug, doch er war nicht so dumm, es vollständig abzulehnen.
»Alls, was du sagst, mag ja zutreffen, Walker«, sagte er schließlich, »aber eines hast du dabei vergessen. Wir müssen ja irgendwie in den Kuppelbau gelangen, damit wir überhaupt erst eine Gelegenheit bekommen, Uhl Belk zu besiegen. Und er wird uns nicht ein zweites Mal einladen. Das hat er schon klar und deutlich gesagt. Und da wir mit unseren eigenen Mitteln nicht hineingelangen konnten, wie sollen wir ihm denn nahe genug kommen, um irgendwas zu unternehmen?«
Walker faltete nachdenklich die Hände. »Uhl Belk hat einen Fehler begangen, als er uns in die Kuppel kommen ließ. Ich war in der Lage, Dinge zu erspüren, die mir vorher verborgen gewesen waren, solange ich gezwungen war, draußen zu bleiben. Ich war in der Lage, die Natur seiner Festung zu erahnen. Er hat sich über jener Höhle niedergelassen, in der uns die Ratten bei unserer Durchsuchung der Tunnel unter der Stadt in die Enge getrieben hatten. Er hat den Gezeitenstrom zwischen sich und die unterirdische Behausung des Malmschlunds plaziert. Aber er hat sich dabei verrechnet. Der ständige Wechsel der Gezeiten haben Teile des Steins, auf dem er ruht, abgenutzt und erodiert.«
Der Dunkle Onkel kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Es gibt eine Öffnung, die den Zugang zu der Kuppel von unten her erlaubt.«
Ein anderes Augenpaar verengte sich zu Schlitzen, diese hier ungläubig, als Horner Dees die Implikationen von Pe Ells Worten in der dunklen Stille des Hauses abwog, wo die beiden Männer sich verkrochen hatten. »Umbringen willst du das Viech?« fragte er schließlich. Er konnte nicht umhin, die Worte des anderen zu wiederholen. »Warum denn das?«
»Weil es da draußen ist!« fauchte Pe Ell ungeduldig, als ob das eine Erklärung wäre.
Er starrte den Fährtensucher herausfordernd an, ob er es wagen würde, etwas zu entgegnen. Als Dees nicht antwortete, beugte Pe Ell sich vor. »Wie lange sind wir jetzt in dieser Stadt, Alter – eine Woche, zwei? Ich weiß es nicht einmal mehr. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor! Aber eines weiß ich. Seit wir angekommen sind, jagt uns dieses Vieh. Jede Nacht. Wo wir auch hingehen! Der Kratzer fegt die Straßen, beseitigt den Müll. Ich habe die Nase voll davon!«
Er war starr vor Wut und kämpfte gegen die Erinnerung an diesen eisernen Arm, der ihn umwickelt hatte, an; er hatte Mühe, seinen Ekel unter Kontrolle zu halten. Wenn er mordete, dann war das schnell und sauber. Kein langsames Quetschen, kein Ersticken und Erwürgen. Und niemals hatte ihn etwas angerührt. Nichts war ihm nah gekommen.
Bis jetzt.
Und daß er den Steinkönig nicht im Unterschlupf des Kratzers gefunden hatte, verbesserte seine Laune auch nicht. Er hatte fest damit gerechnet, Uhl Belk und den schwarzen Elfenstein dort zu finden. Statt dessen hatte er es geschafft, beinahe selbst getötet zu werden.
Sein messerscharfes Gesicht war hart und entschlossen. »Ich will mich nicht mehr jagen lassen. Ein Schleicher kann sterben wie irgendwer.« Er machte eine Pause. »Überleg mal. Wenn er tot ist, läßt sich der Steinkönig vielleicht blicken. Vielleicht kommt er raus, um nachzuschauen, was seinen Wachhund getötet hat. Und dann haben wir ihn!«
Horner Dees sah nicht überzeugt aus. »Du denkst um die Ecke rum.«
Pe Ell errötete. »Hast du wieder Angst, Alter?«
»Natürlich. Aber das tut nichts zur Sache. Du bist ein professioneller Killer, ein Berufsmörder. Du tötest nicht ohne Grund und niemals, wenn die Chancen nicht zu deinen Gunsten stehen. Und das kann ich hier nicht sehen.«
»Dann schaust du nicht genau genug hin!« Pe Ell war wütend. »Der Grund ist klar! Hast du nicht zugehört? Es muß nicht um Geld gehen, und es muß auch nicht ein Auftrag von irgendwem sein! Willst du Uhl Belk finden, oder nicht? Und was die Chancen angeht, da sorge ich schon dafür, daß sie zu meinen Gunsten stehen!«
Pe Ell stand auf und wandte sich einen Augenblick lang ab. Er sollte sich nicht darum scheren, was dieser Alte dachte; es sollte überhaupt keine Rolle spielen. Aber irgendwie tat es das, und er weigerte sich, Dees die Befriedigung zu gestatten, daß er sich vertan hatte. Es war ihm ein Greuel zuzugeben, daß Horner Dees ihm das Leben gerettet hatte, nicht einmal, daß er ihm geholfen hatte, zu entkommen. Der Alte war ihm ein Dorn im Auge, den er dringend loswerden mußte. Dees war wie ein Gespenst aus seiner Vergangenheit aufgetaucht, aus einer Zeit, die er längst vergessen und begraben geglaubt hatte. Kein Lebender sollte wissen, wer er war oder was er getan hatte, mit Ausnahme von Felsen-Dall. Niemand durfte in der Lage sein, über ihn zu reden.
Er merkte plötzlich, daß er Horner Dees ebenso dringend umbringen wollte wie den Kratzer.
Außer, daß der Kratzer momentan das dringendere Problem war.
Er drehte sich wieder dem alten Fährtensucher zu. »Ich habe genug Zeit mit dir vergeudet«, fauchte er. »Geh zu den anderen zurück. Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Horner Dees zuckte mit den Schultern. »Habe ich auch nicht angeboten.«
Pe Ell wandte sich zum Gehen.
»Bloß aus Neugier«, rief Dees hinter ihm her und erhob sich ebenfalls, »wie willst du ihn denn umbringen?«
»Was geht dich das an?« rief Pe Ell über die Schulter.
»Einen Plan hast du doch nicht, oder?«
Pe Ell blieb in der Tür stehen. Ein überwältigender Drang, diesem lästigen Dees auf der Stelle ein Ende zu bereiten, überfiel ihn. Warum sollte er noch länger warten? Die anderen würden es nie erfahren. Seine Hand schob sich in den Schlitz seines Hosenbeins und schloß sich um den Griff des Stiehls.
»Tatsache ist«, sagte Horner Dees, »daß du den Kratzer nicht töten kannst, selbst wenn du nah genug rankommst, um dein Messer zu benutzen.«
Pe Ells Hand ließ wieder los. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, daß selbst, wenn du dem Vieh auflauerst, sagen wir mal, daß du dich von oben auf ihn stürzt oder dich von unten heranschleichst – nicht wahrscheinlich, aber nehmen wir’s mal an –, kannst du es noch immer nicht schnell genug erledigen.« Seine scharfen Augen glänzten. »Oh, du kannst ein oder zwei Tentakel abschneiden, vielleicht sogar ein Bein, oder ihm ein Auge ausstechen. Aber das bringt ihn nicht um. Wohin stichst du ihn, damit er stirbt, Pe Ell? Weißt du es? Ich nicht. Ehe du einen zweiten Stich landest, hat der Kratzer dich. Das Vieh verletzen? Ein Schleicher heilt sich selbst auf der Stelle wieder, findet ein paar Blechstücke und repariert, was kaputt ist.«
Pe Ell lächelte – böse, zynisch, kalt. »Ich werde einen Weg finden.«
Dees nickte. »Klar doch.« Er machte absichtlich eine Pause, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. In der Dunkelheit wirkte seine Bärengestalt wie ein Stück der Wand, das sich löste. »Aber nicht ohne einen Plan.«