Sven paßte dennoch einen Moment ab und schaltete das Triebwerk der Rakete ein. „Veilchen“ raste kerzengerade in die Höhe und verlangsamte seinen Flug ungefähr nach hundert Kilometern.
Die Menschen litten unter dieser Erscheinung nicht sonderlich, sogar Erli verlor nicht das Bewußtsein.
„Womit sind wir denn hier so sanft zusammengestoßen?“ rief Sven.
„Das war kein Zusammenprall“, erklärte Nikolai bestimmt.
„In dieser Höhe kann es über dem Eremiten überhaupt nichts geben.“
„Ein Meteor?“ ließ sich Henry unsicher vernehmen.
„Nein, im System Sewan gibt es gar keine Meteorströme, fast keine.“
„Fast — das heißt, es ist immerhin möglich.“
„›Veilchen‹ hat äußerlich keinerlei Schaden“, sagte Nikolai.
„Ich habe es überprüft.“
„Wir müssen landen“, meinte Erli, der bisher geschwiegen hatte. „Was mit ›Veilchen‹ los ist, klären wir später.“
„Zum Teufel noch mal!“ sagte Henry erregt und drehte sich um. „Ich kann nicht glauben, daß ihnen etwas passiert ist.“
Sven steuerte das Raumschiff nach Süden zum Äquator und ließ es allmählich tiefer gleiten, als es in einer Höhe von anderthalbtausend Kilometern über der Zentralstation war.
Nach wie vor kam keine Verbindung mit der Station zustande. Henry Wirt ging den gesamten Frequenzbereich durch, der in der Funkverbindung auf dem Eremiten zur Verfügung stand, aber im Äther blieb es still.
Das Raumschiff ging immer tiefer, der zigarrenförmige, zweihundert Meter lange Flugkörper vibrierte. Bis zur Oberfläche waren es noch fünfhundert Kilometer… dreihundert…
hundert… Man konnte die Zentralstation bereits mit bloßem Auge erkennen. Fünfzig… zwanzig… zehn… drei… Die einzelnen Gebäude der Zentralstation waren zu sehen. Noch ein Kilometer… noch zweihundert Meter… Aus dieser Höhe hätte man nun schon Menschen erkennen können. Kaum spürbar erzitterte der Rumpf der Rakete. „Veilchen“ fuhr sein Landegestell aus und setzte waagerecht auf.
Der Kosmodrom war menschenleer. Niemand war zur Begrüßung von „Veilchen“ gekommen.
4
„Wir sind gelandet“, sagte Sven dumpf. „Was nun?“
Niemand gab ihm eine Antwort. Erli drückte auf einen der farbigen Knöpfe, die an der Sessellehne angebracht waren. Die Feststeller sprangen seitwärts weg, und der Sessel gab sanft nach. Erli stand auf. Sein Kopf dröhnte, in seinen Schläfen hämmerte es. Ein Brechreiz würgte ihn. Mit eckigen, unsicheren Bewegungen ging er zur Tür des Kommandosektors, ohne zu Sven hinzusehen; ihm folgte Henry.
„Nikolai!“ rief Sven. „Alle ziehen Raumanzüge an und nehmen Blaster mit.“
„Blaster?“ fluchte Traikow. „Hier ist doch keine Menschenseele. Wozu die Waffen?“
„Das weiß ich nicht so recht. Aber wer kann wissen, was sich hier zugetragen hat?“ fragte Sven. „Offensichtlich niemand.
Den Aufzug habe ich blockiert. Wir werden zunächst einmal die Luft prüfen.“ Eine Minute später teilte er mit: „Die Zusammensetzung der Luft ist normal. Wir gehen gemeinsam.
Keiner unternimmt etwas auf eigene Faust. Wir haben keine Ahnung, was hier vor sich gegangen ist, und müssen deshalb äußerst vorsichtig sein.“
Henry Wirt und Nikolai Traikow stiegen als erste aus dem Kommandosektor. Erli sagte sich, daß es ihm nicht zukomme, zuerst auszusteigen. Die anderen wußten wenigstens, wie es hier vorher gewesen war. Aber er konnte sich das nicht einmal vorstellen. Der Boden federte unter den Füßen. Die Beleuchtungen huschten als verschwommene, fade Punkte vorbei.
Sven warf einen Blick in den Raum, in dem die Waffen aufbewahrt wurden. Sie waren aber so lange nicht in Gebrauch gewesen, daß Sven nach einigen Sekunden erfolglosen Herumstöberns wieder auf den Korridor herauskam, ohne etwas bei sich zu haben.
Als erster sprang Henry auf die Platten des Kosmodroms.
Einen Kilometer vom „Veilchen“ entfernt war die Kuppel der Zentralstation mit verschnörkelten Anbauten, Podesten, Durchgängen, Beobachtungsständen und kunstvollen Türmen zu sehen. Es glitzerte alles in den verschiedensten Farben, strahlte nach allen Seiten Regenbogenreflexe aus und hob sich wirkungsvoll vom blauen Himmel ab. Die Kuppel der Zentralstation war der Mittelpunkt für die riesigen Zylinder der Energiespeicher, die sich nach Norden und Süden erstreckten. In weiterer Entfernung ließen sich die Silhouetten der Speicher, Hangare, Wirtschaftsgebäude und Unterkünfte erahnen.
Leuchtend grüne Parkflächen lagen zur Rechten und zur Linken, dahinter gab es nur noch den schwarzen Streifen der Selva des Eremiten, der den gesamten Horizont bedeckte.
Äußerlich hat sich überhaupt nichts verändert, dachte Sven, als er Erli eingeholt hatte. Henry und Nikolai waren ihnen bereits weit voraus.
„Wir brauchen eine Arbeitshypothese“, sagte Erli und holte tief Luft.
„Ich weiß. Henry ist völlig mit den Nerven fertig.“
„Vielleicht sind diejenigen zurückgekehrt, die einst die Zentralstation aufgebaut haben?“
„Ausgerechnet jetzt? Weder ein Jahrhundert später noch ein Jahrhundert früher? Selbstverständlich ist auch das möglich.
Und was sollten wir in diesem Falle tun?“
Sonst waren stets die Mehrzweckmobile auf „Veilchen“ zugefahren, zum Bersten gefüllt mit jubelnden, lachenden Physikern, Technikern, Botanikern, Mathematikern und Biologen.
Die Rückkehr des Transportschiffes war immer für alle ein großes Fest gewesen. Aber hier herrschte Totenstille. Es gab keinerlei Anzeichen für menschliches Leben.
Zwei Mehrzweckmobile standen auch jetzt in der Nähe der Zentralstation, und ein drittes mit geöffneten Luken befand sich ungefähr in der Mitte von Raumschiff und Zentralstation.
Henry lief daran vorbei. Nikolai blieb stehen, kletterte in den Turm und sprang von dort ins Innere. Er schaltete die Beleuchtung ein. Die Schalttafel leuchtete auf. Traikow erfaßte mit einem raschen, flüchtigen Blick die Hebel und Tastatur der Schalttafel. Es war alles in Ordnung. Die Energiereserven zeigten den Höchststand an. Die Kabine war menschenleer.
„Ich möchte wirklich wissen, wozu sie das Mehrzweckmobil gebraucht haben!“ rief Henry, als er zur Luke hineinschaute.
„Ob sie irgendwohin fahren wollten?“
„Unverständlich, wohin sie damit hätten fahren sollen. Die Geschwindigkeit ist sehr niedrig. Bis zu einer Base kann man damit nicht kommen… Dazu nimmt man einen Hubschrauber.“
Erli kletterte ebenfalls in den Turm des Mehrzweckmobils.
Nikolai ließ den Starter an, der Motor heulte auf, und die Maschine fuhr los.
„Gib mir deine Hand!“ rief Erli, als sie Henry eingeholt hatten.
Die Eingangstür zur Zentralstation war weit geöffnet. Henry hatte mit einem Satz die Granitstufen erreicht.
„Mit Selva ist hier nichts!“ rief Sven. „Die Selva konnte nicht hierher vordringen.“
Henry nickte, als wollte er sagen: Das sehe ich. — „Wo willst du denn hin?“
„Zu den Biologen.“
„Warte auf Nik und Erli.“
„Ich will nachsehen, was in Osas Abteilung los ist!“ rief Henry und blieb an der Tür stehen.
„Nimm Nik mit!“
„Gut!“
Wirt und Traikow verschwanden im Korridor, der in den Außenring der Zentralstation führte. Ihre lauten Schritte verhallten, als sie um die Ecke gebogen waren. Sven forderte Erli mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. Auf der Rolltreppe gelangten sie in die Zentralstation, wo der Stab der Expedition, die wissenschaftliche Leitung unter Konrad Stakowski und seine Mitarbeiter Esra und Jumm gesessen hatten. Die Tür dieses Raumes war verschlossen. Sven und Erli versuchten mehrmals, sie zu öffnen, aber die Tür gab nicht nach.
„Keine Menschen. Kein Eindringen der Selva. Keinerlei Spuren einer Katastrophe“, sagte Erli. „Warum sind die Menschen verschwunden?“