„Gut, ich werde schlafen. Aber nicht länger als zwei Stunden.
Das wird vollkommen genügen.“
„Schlaf, Eva.“
Die vier verließen das Zimmer.
Das Mädchen begleitete sie mit einem Blick voller Hoffnung.
Nun waren sie fünf.
6
Erli verließ die Unterkunft und blickte um sich. Ringsumher war es wundervoll! Kleine Hütten lagen verstreut inmitten eines riesigen, schattigen Parkes. Der weiße Komplex der Zentralstation schien im endlosen blauen Himmel zu schweben. Weiches, grünes Gras und wilde Blumen, genau wie auf der Erde. Seltsame, sinnverwirrende Düfte, auf die er früher überhaupt nicht geachtet hatte — alles war ungewohnt, neu und unbekannt.
Er schaute sich um und schalt sich wegen seiner Sentimentalität. Vor ihm waren der Eremit mit seiner dichten Selva und tausend ungelöste Probleme. Zweihundertzehn Menschen, ausgestattet mit den modernsten Mitteln der Fortbewegung, der Funkverbindung und der Verteidigung, waren nicht zur Zentralbasis zurückgekehrt.
Und abermals wurde ihm übel, genau so, wie er es schon erlebt hatte, als er Eva auf dem Arm trug. Hätte er Zeit gehabt, dieses Gefühl zu analysieren, wäre ihm klargeworden, daß dies Angst war. Die Angst, daß er Lej nie wiedersehen wird. Eine lähmende, fürchterliche Angst, die dem Menschen gar nicht bewußt wird, so daß er nicht einmal weiß, daß er Angst empfindet.
„Was werden wir nun weiter tun?“ fragte Sven Thomson.
„So wie jetzt ist’s unmöglich.“ Er deutete auf die anderen.
„Wir müssen irgendwas unternehmen.“
Henry Wirt lag im Gras, das Gesicht nach unten, und schien zu weinen. Nikolai kaute nervös auf den Lippen.
„Es ist fast eine Stunde vergangen“, sagte Erli, „und wir wissen immer noch nichts. Wir müssen einen Aktionsplan aufstellen. Es ist doch nicht denkbar, daß alle auf einmal…“
„Warum habt ihr mich nicht zu Osa gelassen?“ schrie Henry.
„Warum?“ Und er hämmerte mit der Faust auf das Gras.
Sven sprang zu ihm, zog ihn mit einem Ruck vom Boden hoch und rüttelte ihn kräftig. „Henry! Komm zu dir! Laß dich nicht so gehen!“
„Verzeih, Henry“, sagte Erli. „Du wirst zu Osa fliegen. Bestimmt, wir werden das gleich beschließen. Wir gehen jetzt in die Zentralstation, und dort wird alles entschieden.“
Henry versuchte sich zu beherrschen, stand auf, und alle vier begaben sich zur Zentralstation.
„Über was für eine Schaukel mag Stakowski eigentlich gesprochen haben?“ fragte Erli Sven. „Habt ihr keine Vorstellung, was er im Sinn gehabt haben könnte?“
„Absolut keine Ahnung“, entgegnete Sven.
„Vorher ist überhaupt nicht davon die Rede gewesen?“
„Ich habe nichts dergleichen gehört.“
Sie blieben an dem Verbindungspult stehen.
„Wie soll man sich denn diese Schaukel vorstellen?“ fragte Nikolai plötzlich. Alle schauten ihn verwundert und verständnislos an.
„Wie kann man die Schaukel am einfachsten schematisch darstellen?“
Erli zeichnete auf ein Blatt Papier über das gesamte Format eine Gerade und durchschnitt sie in der Mitte durch eine kurze Gerade mit kleinem Neigungswinkel.
„So ähnlich würde ich sie auch zeichnen“, sagte Sven. „Doch wozu das alles? Hast du irgendwo so etwas gesehen?“
„Hab’ ich, ist noch gar nicht lange her, nicht nur einmal.
Möglich, daß es vorige Woche war, kann aber auch schon länger zurückliegen. Aber wo und weshalb? Daran kann ich mich nicht erinnern. Doch ich werde mir Mühe geben.“
„Im Moment ist da nichts zu machen?“
„Nein.“
„Gib dir große Mühe, dich zu erinnern“, meinte Sven. „Vielleicht liegt gerade darin des Rätsels Lösung. Aber erst einmal werden wir unseren Aktionsplan ausarbeiten. Wir können nicht die gesamte Zeit über zusammenbleiben. Deshalb müssen wir die Verbindung untereinander aufrechterhalten. Wir brauchen ein Zentrum, dem wir alle Informationen, die wir gesammelt haben, übermitteln. Einer von uns muß ständig hier in der Zentralstation sein. Am besten am Verbindungspult. Das wäre außerdem für den Fall gut, wenn plötzlich einer von ihnen zu sprechen anfinge… Wer bleibt hier? Henry hat dazu selbstverständlich keine Lust.“
„Nein.“
„Wer wird es also machen? Ich muß mit Henry fliegen, obwohl er das auch allein könnte.“
„Nein“, wiederholte Henry.
„Erli weiß hier zuwenig Bescheid…“
„Eva“, meinte Nikolai. „Solange sie schläft, werde ich hierbleiben. Und wenn sie aufwacht… Sicherlich werde ich dann für mich eine passendere Arbeit finden…“
„Gut.“ Sven erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab.
„Jeder muß ein Funkgerät bei sich haben, damit er nach draußen und drinnen Verbindung aufnehmen kann. Die Verbindung darf nie unterbrochen werden. Jeder ist weiterhin verpflichtet, wenigstens einen leichten Blaster bei sich zu haben, weil wir nicht wissen, was hier vor sich gegangen ist. Henry und ich fliegen mit dem Hubschrauber in die Base von Osa. Mehr als vier Stunden werden wir dazu nicht benötigen.“
„Dort arbeitet der Turm nicht“, sagte Henry. „Ich habe den gesamten Frequenzbereich gehört.“
„Früher hätten vier Stunden ausgereicht. Doch ohne Turm…
Ich weiß nicht, ob ich es mit Hilfe der Karte schnell finde.“
„Ich bin dort gewesen“, sagte Henry. „Wir werden es rasch finden.“
„Dann wollen wir gleich losfliegen. Erli, versuche die Tür zum Stab einzuschlagen!“
„Eva sagte doch, sie habe den Schlüssel“, warf Nikolai ein.
„Ja, richtig, wie konnte ich das bloß vergessen! Um so besser. Also dann los. Was wir nach ein paar Stunden tun werden, weiß ich nicht.“
„Daran wollen wir nicht herumrätseln“, sagte Nikolai, und sie gingen auf den Korridor.
Sven sagte: „Falls diejenigen zurückkommen, die vor uns hier waren… Wenn sie uns feindlich gesinnt sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit ›Veilchen‹ zu starten. Übrigens würde ich das auch tun, wenn ich davon überzeugt wäre, daß wir hier allein sind.“
Sie brauchten fünf Minuten, um die transportablen Funkgeräte und die Blaster zu suchen. Sven und Henry eilten zum Standort der Hubschrauber. Nikolai schaltete alle Empfangsgeräte des Verbindungspultes ein. Erli ging in Evas Unterkunft.
7
Erli beschloß, Eva nicht zu wecken. Ein paar Stunden würden sie ohne sie auskommen. Für sie war es am besten, sich tüchtig auszuruhen. Er zog etliche Kästchen und Schubladen ihres Schreibschrankes auf, aber er fand darin keine Schlüssel. Der Schlüssel hing mit einem kleinen Medaillon an einem Kettchen auf der Brust des Mädchens. Er war bemüht, sie nicht zu wekken, öffnete das Kettchen behutsam und zog es vorsichtig zu sich heran. Das Mädchen bewegte sich ein wenig, griff nach seiner Hand, doch wachte dabei nicht auf. Endlich hatte er den Schlüssel. Er nahm sich nicht die Zeit, das Kettchen wieder zu schließen. Leise verließ er das Zimmer.
Vor der Zimmertür des Hauptpultes blieb er stehen, holte tief Luft, schaltete die Funkverbindung ein und fragte Traikow:
„Nik, sind sie schon abgeflogen?“
„Ja. Alles lief normal. Alle zwanzig Minuten werde ich mit ihnen sprechen. Du kannst dich vollkommen deiner Aufgabe widmen.“
„Na, ausgezeichnet.“
„Wo bist du im Moment?“
„Ich öffne die Tür zum Hauptpult. Den Schlüssel habe ich gerade gefunden.“
Erli öffnete die Tür. Stickige Luft kam ihm entgegen. Darüber staunte er. Sollte tatsächlich die Ventilation nicht funktionieren? Auch die kleinen Lampenautomaten brannten nicht.
Kaum wahrnehmbar leuchtete die Decke auf, nach Norden und Süden fast ein wenig heller, in der Mitte war ein völlig dunkler Streifen. Bei dieser Beleuchtung konnte man schwerlich etwas erkennen, und Erli kam nur tastend voran. Eine kleine Hilfe war der Lichtstreifen, der durch die geöffnete Tür hereinfiel.