Die Innenausstattung im Raum des Hauptpultes kannte er nicht, doch seine Augen hatten sich inzwischen etwas an das Halbdunkel gewöhnt. Er bewegte sich sogar ein wenig sicherer, doch seine Sicherheit verflog mit einem Male, als er mit seiner Hand an die Sessellehne kam und der Stoffbezug ihm zwischen den Fingern zu Staub zerfiel. Erli zuckte zusammen und blieb stehen. Es war wohl doch besser, eine Taschenlampe zu nehmen. Aber warum funktionierte die Beleuchtung nicht?
Mit Hilfe des Lichtscheines fand er rasch zur Tür zurück und tastete sich zum Lichtschalter. Er knipste, aber es ging nicht, die Teile des Schalters fielen geräuschvoll zu Boden.
„Erli“, rief ihn Traikow an. Er zuckte überrascht zusammen und antwortete: „Ja, Nik.“
„Was ist bei dir los?“
„Ich begreife überhaupt nichts…“
„Soll ich helfen?“
„Nein, Nik. Sag mir lieber, wie ich schnell zu einer Taschenlampe kommen kann!“
„Eine Taschenlampe? Bist du denn unter der Erde?“
„Denk nicht, daß ich spinne. Die Automatik funktioniert nicht, und der Schalter ist mir in der Hand zerfallen.“
„Da wird wohl nur in den Wirtschaftsräumen etwas zu finden sein, sonst kaum. Soll ich dir eine hinbringen?“
„Ich mach’ das schon selbst. Du darfst nicht weg vom Verbindungspult.“
„Die Verbindung kommt erst in dreißig Minuten. Das schaffe ich.“
„Nein, Nik. Jede Sekunde kann jemand rufen.“
Erli fuhr auf der Rolltreppe hinunter, lief abermals den dritten Korridor entlang und kroch in den unterirdischen Durchgang.
Der Kolben seines Blasters schlug ihm gegen den Rücken. Erli kam sogar der Gedanke, daß hier, in der Zentralstation, eine Waffe doch völlig sinnlos sei. Die Lichterkette begleitete ihn und war ihm immer ein Stück voraus. Hier funktionierte alles vollkommen normal. In dem Wirtschaftsraum gab es eine Informationsmaschine. Erli drückte den Knopf „Autonome Beleuchtung“, merkte sich die Nummer der Sektion und lief weiter. Die Tür zur Sektion öffnete sich vor ihm bereits, als er auf sie zueilte. Es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Er ergriff eine kleine Taschenlampe und steckte sie in seinen Anzug. Auf den Regalen fand er noch zwei große, die er in die Hände nahm. Dann überlegte er einen Moment und nahm noch zwei. Mehr konnte er nicht tragen.
Im Laufschritt kehrte er wieder zum Hauptpult zurück, holte Luft vor der Tür und ging hinein. Die Lampen stellte er auf den Boden. Eine davon knipste er an, hob sie über den Kopf und ging langsam weiter.
Er sah einen runden Saal mit einem Durchmesser von etwa vierzig Metern vor sich. An den Wänden standen Schränke mit elektronischen Anlagen, bestimmt für Hilfeleistungen, Rechenmaschinen, Informationsspeicher, Autographen. Daneben waren achtzehn Sessel für Mitarbeiter. Sie waren alle besetzt, wenn Konrad Stajkowski die Bearbeitung der aufgespeicherten Informationen als dringliche kollektive Arbeit angesetzt hatte.
In der Mitte des Saales befand sich das zehn Meter große Pult in Hufeisenform: verschiedenfarbige Tafeln mit Tastaturen zur Einstellung eines Programms, Apparate für die Rückverbindung mit den zwanzig Basen, die es auf dem Eremiten gab, das Pult des Hauptcomputers, beleuchtete Melde- und Signaltafeln, Apparate für den visuellen Kontakt.
Unmittelbar in der Mitte des Saales standen noch ein paar Sessel. Hier hatten Konrad Stakowski, Philipp Esra und Edwin Jumm sowie einige andere Mitglieder der Expedition gearbeitet.
Erli stellte die Taschenlampe auf das Pult, lief um es herum, ohne etwas zu berühren, und betrat dann das Innere. Die ersten beiden Sessel waren leer. Im dritten und vierten lagen zwei menschliche Skelette, an denen stellenweise noch etwas Haut und ein paar Fetzen der Kleidung hingen.
Einige Sekunden betrachtete sie Erli, dann atmete er stoßweise die warme, muffige Luft ein und preßte die Hände an die Schläfen. Zum dritten Male überfiel ihn eine Welle von Angst, er wich zurück zum Ausgang und hielt den Schrei, der in ihm hochstieg, zurück. Er lehnte sich an den Türpfosten und zitterte infolge des völlig Unerwarteten. Das helle Licht im Korridor ließ ihn wieder etwas zu sich kommen. Und wie muß erst Eva zumute gewesen sein? dachte er. Eine Frau, ganz allein. Und sie konnte uns sogar noch was erzählen. Sie hat die Kraft gehabt, sich davon zu überzeugen, daß auf den speichernden Anlagen alle Informationen gelöscht sind. Ich habe nicht einmal das beim ersten Mal tun können.
„Erli, was ist bei dir los?“ rief ihn Traikow.
„Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist…“
„Demnach hat Eva die Wahrheit gesagt?“
„Und was für eine Wahrheit!“
„Mich verlangt Henry. Ich schalte mich aus.“
„Wir müssen nur noch herausfinden, was mit den anderen zweihundertacht Mann passiert ist“, flüsterte Erli vor sich hin und ging wieder in den Saal.
8
An ihrem Standort befanden sich ungefähr zwölf Hubschrauber. Sven wollte auf einen kleinen Zweisitzer losstürzen, doch Henry hielt ihn zurück. „Wenn sie nun noch am Leben sind, und man müßte sie schnellstens hierherbringen?“
Thomson widersprach nicht. Sie rannten zu einem großen Zehnsitzer, legten ihre Blaster hinein und kletterten dann selbst hinauf. Sven warf einen Blick in den Gepäckraum, um sich davon zu überzeugen, daß Flammenwerfer an Bord waren.
Ohne sie in die Selva zu fliegen, wäre heller Wahnsinn gewesen.
Sven ließ den Hubschrauber jäh in die Höhe steigen. Die Kuppel der Zentralstation huschte vorbei, die Energiespeicher erschienen als weiße Tasten, die hölzernen Unterkunftshäuschen waren wie dunkle Erbsen im Gelände verstreut, nach einer Minute waren die letzten Flecken der hellgrünen Parkanlagen verschwunden. Unter ihnen lag die endlose Selva.
„Henry“, sagte Sven, „geh auf Verbindung mit der Zentrale.
Wir müssen alles überprüfen.“
„In Ordnung… Nik! Hörst du mich gut?“ fragte Henry, als er die Funkanlage eingeschaltet hatte. „Antworte!“
„Ausgezeichnet“, antwortete Traikows Stimme. „Wie geht es bei euch? Alles in Ordnung?“
„Völlig normal“, sagte Henry, und zu Thomson gewandt:
„Die Verbindung klappt, Sven… Nik! Ich werde die Zentrale alle zwanzig Minuten rufen, wie wir es vereinbart haben.“
„Gut.“
Von oben wirkte die Selva eintönig. Düstere Zusammenballungen dunkelgrünen Pflanzenwuchses. Ab und zu konnte das Auge kärgliche Wasserlachen von Flüssen und Seen erhaschen. Das Gelände war felsig. Auf dem Eremiten gab es überhaupt keine hohen Berge.
„Wohin man auch schaut, überall ist diese Selva!“ Wirt zog die Schultern hoch. „Falls nun die Selva in eine von den Basen eindringt? Allein der Gedanke ist schrecklich. Ein wildes Wüten der ekligen dahingleitenden Pflanzen, und eine Tierwelt, die nur ein Ziel hat: das Fressen. Blaster können dagegen nichts ausrichten. Unheimliche Selva! Doch vorläufig, solange der Schutzgürtel seine Wirksamkeit behält, kann die Selva kein Grauen erregen. Alles kann aus den Fugen geraten, bloß die Aggregate der Schutzgürtel nicht!“
Henry Wirt sah flüchtig auf den Geschwindigkeitsanzeiger.
Der leuchtende Zeiger hatte die Höchstgrenze erreicht.
Sven und Henry schwiegen. Sven verglich gewissenhaft das sich vor ihnen entfaltende Bild des Geländes mit der Karte.
Henry hing seinen eigenen Gedanken nach. Er wollte nicht glauben, daß seiner Osa irgend etwas zugestoßen war.
Als zwanzig Minuten nach ihrem Start vergangen waren, rief Wirt die Zentrale.
„Nik, hörst du mich gut?“
„Ausgezeichnet. Warum sprichst du so schnell? Ist etwas passiert?“