Die weibliche Gestalt lief immer mit ihnen mit. Ihre großen, hellblauen Augen verfolgten aufmerksam alle Handlungen.
Mit keiner einzigen Bewegung gab sie zu erkennen, daß Henry und Sven ihr bekannt waren. Ihr Gesicht war vollkommen reglos. Sie tastete sich langsam mit den Händen an der Wand entlang und bewegte sich dabei wie eine aufgezogene Puppe.
„Sven, komm zur Spitze der Kuppel! Anders läßt sie uns die Wand nicht durchbrechen. Mit ihr ist irgendwas vor sich gegangen!“
Der Hubschrauber stieg bis zur Spitze der Kuppel auf. Aber trotzdem konnten sie wieder nicht schießen. Die Frau stand unmittelbar unter ihnen.
„Sven, ich werde mir den Gurt umschnallen und mich an der Strickleiter mit einem Flammenwerfer hinunterlassen. Du bringst den Hubschrauber auf die andere Seite. Sie kann ja nicht gleichzeitig auf zwei verschiedenen Seiten der Kuppel sein. Entweder du oder ich werden auf diese Weise eine Öffnung zustande bringen.“
Wirt ließ sich auf die glatte Kuppel gleiten und stoppte in Höhe des Fußbodens. Die Frau kam auf ihn zu. Osa! Osa! Wie abgemagert sie war! Nur die großen Augen waren noch ganz lebendig. Weshalb erkannte sie ihn eigentlich nicht? Warum gab sie ihm kein Zeichen, daß sie sich freute, ihn zu sehen?
Zur gleichen Zeit brannte Sven mit einigen Schüssen ein Loch in den Plast, das zum Durchklettern für einen Menschen groß genug war. Der Hubschrauber stieg wieder ein paar Meter höher, und Sven zog Wirt in die Kabine.
Eine Minute später war Henry im Innern der Kuppel. Sven wartete in der Maschine und hielt den Blaster schußbereit, weil die Schleimsäckchen anfingen, in die Höhe zu springen.
„Osa!“ sagte Henry und berührte zärtlich ihr Gesicht mit den Fingern. „Warum sagst du nichts? Freust du dich gar nicht?
Warum redest du nicht? Was ist hier geschehen?“
„Ich habe gewartet“, sagte die Frau, „daß jemand hierherkommt. Als Stap wegging, hat er fest versprochen, daß bestimmt jemand kommt.“
Osa erwartete doch ein Kind, dachte Sven. Ob Henry wirklich noch nicht bemerkt hat, daß ihre Figur völlig normal ist?
Henry hatte es bemerkt. Er hatte es bereits gesehen, als sie sich an die Wand der Kuppel gelehnt hatte.
„Osa, was ist mit unserem Kind?“
„Ich verstehe nichts“, sagte die Frau.
„Was ist mit dir los?“
„Mit mir? Gar nichts. Ich habe so lange auf euch gewartet.
Ganz allein. Als Stap wegging, hat er von außen die Tür versiegelt, damit ich nicht in der Verzweiflung hinausgehen und Selbstmord begehen könnte. Mir sind solche Gedanken überhaupt nicht gekommen. Ich habe immerfort die Säckchen und Gleitpflanzen beobachtet.“
„Osa, wann ist Stap weggegangen? Womit?“
„Vor fünf Jahren. Er war sehr gut zu mir.“
„Wieso vor fünf Jahren?“
„Ich habe alles aufgeschrieben. Wir waren noch eine Stunde in Verbindung. Dann hat er geschwiegen. Ich glaube, er ist tot.“
„Osa!“
„N-n-nein, ich bin nicht Osa. Sie ist vor achtzehn Jahren gestorben. Ich kann mich an sie nicht einmal erinnern. Ich werde euch zeigen, wo man sie begraben hat.“
„Osa, was ist nur mit dir los? Komm zu dir!“ Er schüttelte die zarte Gestalt an den Schultern, doch sie nahm seine Arme herab und sagte: „Stap hat gesagt, Osa habe beständig auf jemanden gewartet.“
„Und auf wen wohl?“
„Auf Henry Wirt… Er hat gesagt, sie habe sehr, sehr gewartet.“
„Ich bin Henry Wirt. Ich verstehe gut, daß du in diesen letzten langen Tagen alles satt bekommen hast. Es müssen fürchterliche Tage gewesen sein. Aber nun ist alles vorbei. Komm zu dir, Osa! Wir fliegen jetzt gemeinsam in die Zentrale. Osa, schau mich nicht so an!“
„Aber ich bin doch nicht Osa. Ich heiße Seona.“
„Seona? Aber so wollten wir doch unsere Tochter nennen!
Osa, du bist ein bißchen krank, doch das wird bald vorüber sein. Wir müssen uns beeilen. Bald geht die Sonne unter. Was willst du alles mitnehmen?“
„Die Sonne? Sie wird noch längst nicht untergehen. Erst in einem halben Jahr. In Büchern habe ich gelesen, daß die Sonne alle vierundzwanzig Stunden auf- und untergeht; wenn sie untergeht, legen sich die Menschen schlafen. Aber hier ist alles völlig anders. Ein Tag dauert hier anderthalb Jahre. Das ist lustig, nicht wahr? Ein Tag ist also länger als ein Jahr. Danach sind dann anderthalb Jahre Nacht, es erfriert hier alles, und natürlich herrscht absolute Finsternis. In dieser Zeit kommen einem dann die Gleitpflanzen und die Säckchen recht sympathisch vor, man möchte direkt mit ihnen spielen. Ja, nachts habe ich mich mitunter sehr elend gefühlt; besonders als Stap weggefahren war. Der Ärmste, eine Stunde später war er schon tot, so denke ich wenigstens.“
Henry wandte sich flehend zu Sven, so als wollte er sagen:
›Nimm es nicht so ernst, sie sagt das nur so.‹
Sven nickte ihm schweigend zu, was nun bedeuten sollte:
›Schon gut. Setzt euch jetzt in die Maschine, wir fliegen zurück.‹
„Was möchtest du mitnehmen, Osa? Wir fliegen gleich los.“
„Seona…“
„Na gut, Seona. Also was?“
„Oh, eigentlich möchte ich alles mitnehmen. In der Zentrale habe ich doch überhaupt nichts. Ich bin noch kein einziges Mal dort gewesen. Doch ich wollte schon immer gern mal dorthin.
Aber ich werde nicht viel mitnehmen, denn ihr habt es wohl eilig? Ein paar Kleider. Aber auch das ist unnütz, denn sie sind sowieso abgetragen. Ich werde das Buch hier mitnehmen und den Anzug. Er ist noch fast neu. Und dir soll ich auf Staps Wunsch das hier übergeben.“ Sie zog einen Ring von ihrer Hand, der anstelle eines Steines eine kleine Scheibe besaß, die zur Aufzeichnung von etwa einer Gesprächsminute eingerichtet war. Diesen Ring hatte Henry einst Osa geschenkt. „Stap meinte, dies sei besonders wichtig. Und dann nehmt doch noch bitte diese Kiste hier mit. Darin sind Tonbandaufzeichnungen und Papiere. Sie steht nun bereits so viele Jahre da, daß ich gar nicht mehr geglaubt habe, sie würde eines Tages geöffnet werden. Stap hat gesagt, daß alles für die Menschen, die einmal hierherkommen werden, sehr aufschlußreich sein wird.“
Henry nahm die Kiste, trug sie zur Wand und überreichte sie Sven. Dann wandte er sich zu Osa. Wie sehr sie sich doch verändert hatte, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte! Sie war abgemagert, ihre Gesichtszüge hatten sich leicht verändert, waren viel schärfer geworden. Was erzählte sie ihm da alles?
Daraus ging doch wohl eindeutig hervor, daß sie den Verstand verloren hatte… Die Ärmste! Was hatte dem alles vorausgehen müssen, ehe das hatte geschehen können!
„Osa-Seona, fürchte dich jetzt vor nichts mehr.“ Er drückte sie fest an seine Brust. „Alles wird gut werden.“
„Ich habe auch früher keine Angst gehabt. Immer habe ich auf die Menschen gewartet. Und jetzt, wo ihr hier seid, fürchte ich mich überhaupt nicht mehr.“
Sie gingen zu dem Wanddurchbruch in der Kuppel. Henry stützte behutsam die zartzerbrechliche Osa-Seona. Tief in seinem Herzen war die Freude gepaart mit großem Schmerz.
„Sven, hilf ihr“, sagte er. Sven hatte aber bereits seine Hände ausgestreckt, um der Frau zu helfen.
Als der Hubschrauber von der Kuppel abgesetzt hatte, nahm Henry den Flammenwerfer und goß den Rest der brennenden Flüssigkeit über die unten umherwimmelnden und — kriechenden Gleitpflanzen und Schleimsäckchen.
„Das ist doch zwecklos, Henry“, meinte Sven.
„Ich weiß“, entgegnete Wirt.
„Ja, das macht ihr nicht gut“, sagte Osa. „Sie haben mich so viele Jahre vergnügt und gut unterhalten!“
„Hmmm.“ Henry klopfte sich mit den Händen an den Kopf.
Unter ihnen dehnte sich wieder die verhaßte schmutziggrüne Selva.
Sven flog den Hubschrauber mit Höchstgeschwindigkeit.
Man mußte so rasch wie irgend möglich die Zentrale erreichen.