Sie kamen sowieso bereits zu spät zur fälligen Funkverbindung. Erli und Nik würden jetzt wer weiß was denken!
„Was ist denn nun eigentlich hier vor sich gegangen?“ fragte Henry. Seine Zunge wollte die Laute noch nicht zu „Seona“
formen.
„Ich weiß es nicht. Das ist alles noch vor mir gewesen, ehe ich da war. Aber Stap hat mir erzählt, daß es einen Sturm gegeben hat, einen fürchterlichen Sturm. Und die Selva ist bei uns eingedrungen. Damals sind sie auf der Basis vier Mann gewesen. Der Pilot Jürgens ist sofort umgekommen. Sie haben nicht einmal seine sterblichen Überreste aus dem Hubschrauber herausziehen können. Dann starb Osa.“ Als Henry das hörte, begann es ihn zu würgen. „Dann war noch ein Mann da.
Er hieß Wytschek, aber an ihn kann ich mich auch nicht erinnern. Er hat gesagt, daß Osa begraben werden soll, wie es bei den Menschen Sitte ist, damit die Gleiter nicht an sie herankönnen. Und sie haben sie also begraben. Aber Wytschek ist danach nicht mehr zurückgekehrt. Stap hatte — die Gleitpflanzen nicht zurückhalten können. Dann waren wir nur noch zu zweit. Später ist auch Stap fortgegangen. Er wollte versuchen, zur Zentrale durchzukommen. Das hätte er wohl besser im Winter tun sollen. Aber er ist im Hochsommer losgezogen, als die Sonne schon ein halbes Jahr lang nicht hinter dem Horizont untergegangen war.“
„Schon wieder die Sonne“, flüsterte Henry.
„Nimm dich zusammen“, sagte Sven leise.
Eine Minute später sagte Sven zu Henry: „Übrigens hat sich die Sonne in diesen viereinhalb Stunden tatsächlich nicht von der Stelle gerührt.“
„Und du ebenfalls nicht“, brummte Henry müde.
„Kannst dich ja selbst überzeugen.“
Doch Henry drückte lediglich Osa fester an sich.
„Wie angenehm die Wärme eines menschlichen Körpers ist“, sagte sie.
Der Hubschrauber näherte sich der halb durchsichtigen Membran.
16
Erli lief den Korridorring entlang, als vor ihm ein Schuß abgegeben wurde. Er fiel im Verbindungsabschnitt. Dort war nur Eva. Ob sie nun doch nicht mehr durchgehalten hatte?
Erli sprang zur Tür und blieb stehen. In der Tür war ein Loch, auch die gegenüberliegende Korridorwand war beschädigt. Erli drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Es war alles still.
Behutsam machte er einen Schritt vorwärts und sagte im Flüsterton: „Eva, ich bin’s, Erli.“
Niemand antwortete.
Er machte noch ein paar Schritte. Vor ihm stand Eva mit dem Blaster in der Hand. Sie ließ ihn langsam sinken, er fiel polternd auf den Boden.
„Erli, bring mich von hier weg. Es fehlt nicht mehr viel, und ich halte nicht mehr durch.“
„Dazu habe ich kein Recht.“
„Und wenn ich… Möchtest du das denn? Lej hat immer von dir gesprochen. Doch sie liebte dich nicht. Nein. Wir sind Freundinnen gewesen. Sie hat mir alles erzählt. Alles. Es war genug, damit ich anfing, an dich zu denken. Ich wußte, daß du hierherkommen würdest, und habe auf dich gewartet. Vielleicht hat es Lej absichtlich so gemacht, damit dich jemand lieben wird. Sie ist sehr gütig gewesen. Selbst brauchte sie überhaupt nichts.“
„Ich habe stets das getan, was sie wollte. Und nie hat sie etwas für sich selbst gewollt“, sagte Erli. „Ich würde dich hier wegbringen, wenn es möglich wäre.“
Sie kam auf ihn zugerannt, schlang ihre Arme um seine Schultern, schaute ihn von unten herauf an und sagte: „Ist das wirklich wahr, Erli?“
Erli schob sie sacht zurück und sagte: „In der Zentrale sind irgendwelche fremden Menschen. Vor wenigen Minuten hat mir Nik das mitgeteilt. Im Moment beobachtet er sie.“
„Du hast mir das mit Esra und Jumm nicht geglaubt, nicht wahr?“
Er nickte.
„Ich habe eben nach ihnen geschossen. Aber sie sind weggegangen. Sie sind wie Schatten.“
„Schon gut, Eva… Wir werden auch noch feststellen, was das gewesen ist. Setz dich jetzt hin und mach dich bereit zum Empfang. Gleich wird die Verbindung mit Wirt kommen. Ich werde mit Nik sprechen.“
Erli nahm die Verbindung mit Traikow auf, der sich sofort meldete, als hätte er schon darauf gewartet. „Erli! Wo bist du jetzt?“
„Am Verbindungspult. Wo sind diese Leute?“
„Ein paar sind auf dem Dach des fünften Speichers. Was sie dort tun, ist mir nicht klar. Die anderen sind zum sechsten hingefahren.“
„Gefahren? Womit?“
„Sie haben so etwas wie ein Mehrzweckmobil.“
„Ich weiß nicht, wie wir es richtig machen, Nik. Bleibst du dort, oder kommst du hierher zurück? Wenn man nur wüßte, was sie vorhaben, vor allem, wer sie eigentlich sind.“
„Ich werde vorläufig hierbleiben. Wenn irgendwas ist, gebe ich dir Bescheid… Eins kann ich mit Bestimmtheit sagen: Es sind keine von uns, denn unsere kenne ich alle.“
„Na schön. Sei vorsichtig, Nik.“
Erli schaltete das Funkgerät aus und sagte müde: „Mir brummt der Schädel. Ich sehe da noch nicht durch, was alles geschehen ist, falls das überhaupt möglich ist.“
„Ich verstehe, Erli“, sagte Eva.
Jetzt wurden sie von Wirt verlangt.
„Die Basis ist vernichtet“, gab Henry ruhig durch. „Praktisch vollkommen vernichtet. Alles ist zerstört.“
„Und die Menschen?“
„Bis auf eine… Osa“, sagte Henry flüsternd.
„Weshalb sprichst du denn so leise?“
„Sie sitzt neben mir. Erli, ich kann darüber nicht laut sprechen.“
„Was ist mit den anderen?“
„Wahrscheinlich leben sie nicht mehr. Jedenfalls Jürgens ist tot. Wir haben ihn gesehen.“
„Henry, kommt so schnell wie möglich zurück! Wenn ihr an die Zentrale herankommt, fliegt sie von Süden an und landet über den Bäumen, direkt am Hauptaufgang.“
„Verstanden“, antwortete Sven.
„Es ist nämlich so, daß in der Zentrale irgendwelche Menschen erschienen sind. Wer sie sind, weiß ich nicht. Nik beobachtet sie. Es ist besser, wenn sie euch nicht sehen. Habt ihr verstanden?“
„Das sind denn doch zu viele Rätsel für einen einzigen Tag“, sagte Sven.
„Der Tag ist ja noch nicht zu Ende.“
„Also gut, in zwanzig Minuten sind wir bei euch“, gab Henry durch. „Ich gehe aus der Leitung.“
Erli reichte das Mikrofon an Eva weiter.
„Ist ja schön, sie haben Osa gefunden. Mit ihr ist auch irgendwas geschehen. Henry wollte nicht einmal laut sprechen in ihrer Gegenwart. Drei sind bereits nicht mehr am Leben.“
Eva erhob sich langsam vom Sessel und blickte in Erlis Richtung. Er schaute sie verwundert an. Was war geschehen? Das Mädchen hob die rechte Hand und preßte sie auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Erli ging auf Eva zu, dabei spürte er, wie ihm ein unangenehmer Kälteschauer über den Rücken lief. Er drehte sich langsam um und hatte das Gefühl, daß sich ihm die Haare sträubten und seine Glieder durch den fürchterlichen Schreck wie gelähmt waren.
Die Tür im Raum war geschlossen, doch in ihr war die Gestalt Philipp Esras aufgetaucht. Er stand nachdenklich auf der Türschwelle. Dann lief er schnurstracks ins Zimmer auf die Funkanlage zu. Erli drängte Eva hinter einen Wandvorsprung, doch sie klammerte sich mit ihren weiß gewordenen Fingern fest an seine Schultern. Am liebsten hätte er sich selbst an jemandem festgehalten, um sich von dem lähmenden Schreck zu erholen.
Esra führte verschiedene Schaltungen an der Tastatur des Gerätes durch, wobei sich kein Hebel und kein Pedal von der Stelle rührte. Doch Esra handhabte sie so, als führte er tatsächlich die Schaltungen aus. Dann streckte er seine Hand nach dem Mikrofon aus, führte es an den Mund und hielt dabei seine Finger so, als befände sich in seiner Hand wirklich ein Mikrofon. Aber das stand nach wie vor auf dem kleinen Tisch.
Nachdem Esra ein paar Worte in das imaginäre Mikrofon gesprochen hatte, erhielt er offensichtlich keine Antwort, so daß er es auf das Tischchen warf. Einige Sekunden stand er da, hatte die Ellbogen auf die Sesselrücken gestützt und trommelte mit den Fingern auf dem Schaltbrett. Seine Handlungen waren von keinem Geräusch oder Laut begleitet. Dann strich er über seinen Rotkopf und ging einige Male im Zimmer auf und ab, wobei er in die geöffneten Fenster blickte.