Erli hielt den Atem an. Natürlich, das war wirklich Philipp Esra. Rotes Haar. Großer Kopf. Ungebügelte Hosen, wie immer. Im weiten, legeren Blouson mit großem Halsausschnitt.
Grüne Schuhe, die er nicht einmal am Strand auszog. Esra schien auf jemanden zu warten. Aber auf wen wohl? Wie konnte er überhaupt hier auftauchen, wo Eva und Erli doch bereits seine sterblichen Überreste in Augenschein genommen hatten!
Durch die Tür schien ihn jemand gerufen zu haben. Lautlos rief er etwas zurück und ging dann rasch durch die geschlossene Tür.
„Erli“, flüsterte Eva. „Das ist zuviel! Halluzinationen habe ich noch nie gehabt!“
„Es ist aber keine Halluzination. Das war er tatsächlich. Zunächst habe ich auch gedacht, ich sei am Ende… ich bin wahnsinnig. Doch jetzt denke ich, es hat sich alles in Wirklichkeit zugetragen. Ich werde ihm hinterhergehen.“
„Erli, und ich?“
„Eva, du wirst hier sitzen bleiben. Jede Minute müssen Sven und Henry ankommen. Sie sollen am besten gleich hierherkommen. Vorläufig erzählst du ihnen und Nik nichts davon.
Ich werde sehr schnell zurück sein.“
Er öffnete die Tür und schaute auf den Korridor hinaus. Esras Gestalt tauchte im linken Teil auf, der zum Ausgang führte.
Erli gab sich Mühe, keine Geräusche zu verursachen, lief schnell in die gleiche Richtung und passierte einige Korridore und unterirdische Übergänge. Dabei wurde er beständig von der Kette aufleuchtender Lämpchen begleitet, während Esra im Dunkeln lief und sich ausgezeichnet zurechtfand.
Sie gingen so bis zur Rolltreppe, die zum Hauptsteuerungspult führte und ließen sich nach oben tragen. Die Tür war noch genauso geöffnet, wie sie Erli verlassen hatte, doch Esra machte eine Bewegung, als öffnete er sie. Sie traten beide nacheinander ein. Erli hatte erwartet, Jumm hier anzutreffen, und das war richtig gewesen. Esra und Jumm nahmen auf dem Computer einige Rechenoperationen vor, wobei sie die Tastatur drückten und sich gegenseitig unterbrachen. Aber die Tastatur bewegte sich nicht. Das sah Erli ganz deutlich.
Dann falteten sie die Rolle auseinander. Es war irgendeine technische Zeichnung darauf.
Erli biß sich auf die Lippen, nahm allen Mut zusammen und faßte Philipp Esra am Ellbogen an. Seine Hand griff ins Leere, es war keinerlei Widerstand da.
Von Süden her drang das dumpfe Dröhnen des sich nähernden Hubschraubers an Erlis Ohr, und er verließ das Hauptsteuerungspult, ohne sich umzudrehen.
17
Sven setzte den Hubschrauber fast auf die Stufen des Aufgangs zur Zentralstation. Osa schaute verwundert um sich, ohne sich zum Aussteigen zu entschließen. Henry sprang auf das Gras und half ihr auf den Boden. Strahlende Sonne, weicher, grüner Rasen, darin leuchtende Blumen, schattige Baumkronen über dem Ganzen. Osa flüsterte hingerissen: „Ich habe gelesen, daß es so etwas gibt, aber daß es so wundervoll ist, habe ich mir nicht vorgestellt.“
Henry legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie die Stufen hinauf.
Sven hatte zwei Blaster auf dem Rücken. Er folgte ihnen.
Auf dem Korridor, der zur Verbindungsabteilung führte, trafen sie Erli.
„Ich freue mich, Henry!“ Er gab der Frau die Hand. „Guten Tag, Osa!“
„Ich bin Seona, Osa ist doch tot.“
Erli blickte Henry flüchtig an und schien alles zu begreifen.
Henry stand mit gesenktem Kopf da und hielt Osa an der Hand.
„Na gut. Wir haben wenig Zeit. Geht in die Verbindungsabteilung. Wir müssen entscheiden, was wir weiter tun.“
Sven ging noch vor den anderen in die Abteilung und unterrichtete Eva davon, daß die Frau Seona genannt sein wollte.
Als die anderen kamen, ging ihnen Eva entgegen und sagte einfach: „Guten Tag, Seona!“
„Guten Tag…“
„Ich heiße Eva. Das ist Erli. Alle anderen kennst du ja bereits.“
„Eva. Das ist ein sehr schöner Name. Was soll ich jetzt tun?“
„Seona, dir gefällt es doch so, aus dem Fenster zu schauen“, sagte Henry. Er führte sie sacht an das Fenster und ließ sie in einem Sessel Platz nehmen. „Schau mal, wie schön es dort ist!
Es gibt keine Gleitpflanzen und keine Schleimsäckchen.“
Osa saß stumm im Sessel.
Erli nahm die Funkverbindung mit Traikow auf. Bei ihm lag nichts Wesentliches vor. Erli bat ihn, an seinem Platz zu verbleiben, aber an ihrem Gespräch per Funk teilzunehmen.
Dann berichtete jeder kurz darüber, was er gesehen hatte, welche Gedanken und Vermutungen ihm gekommen waren, wobei der Akzent auf den besonders merkwürdigen, schwer erklärlichen Momenten lag.
„Seit unserer Landung auf dem Eremiten sind fünf Stunden vergangen“, sagte Erli. „Alles ist hier seltsam und unverständlich. Doch ich glaube, jeder von uns hat seine Hypothesen und Vermutungen. Wer möchte zuerst sprechen?“
„Es sind siebeneinhalb Stunden vergangen“, korrigierte ihn Sven.
„Nein, es sind erst fünf Stunden“, entgegnete Erli entschieden. „Das ist unschwer festzustellen. Also, wer ist der erste?“
„Fang du an, Erli.“
„Nein, ich werde der letzte sein. Henry, du machst den Anfang!“
Wirt war ein paar Sekunden still, dann sagte er: „Ich weiß nicht, wodurch Esra und Jumm umgekommen sind und was ihr Tod für Folgen gehabt hat. Jedenfalls konnte die Selva irgendwie in die Basis eindringen. Es hat ein Orkan gewütet, der die Schutzbarrieren und Gebäude vernichtete, alles andere hat dann die eingedrungene Selva besorgt. Wenigstens ist es auf der zweiten Basis so gewesen. Ich bin überzeugt, daß es in allen anderen genauso ist.“
„Zur gleichen Zeit soll das überall passiert sein?“ fragte Erli.
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Henry. „Der Orkan hat eine Basis nach der anderen erfaßt.“
„Ein Orkan auf dem gesamten Territorium des Eremiten?“
staunte Sven. „Das ist wohl wenig wahrscheinlich. Hier ist früher noch nicht einmal heftiger Wind gewesen!“
„Soweit wir zurückdenken können, hat es das tatsächlich nicht gegeben. Trotz alledem hat aber hier ein Orkan gewütet“, widersprach Erli. „Ich habe gesehen, was auf dem Terrain der Zentrale vor sich gegangen ist. Hunderte von Metern hoch ist sperriges Zeug aufgetürmt worden. Der Orkan ist von Norden gekommen, und nach der von ihm aufgetürmten sperrigen Barrikade zu urteilen, muß es ein ganz entsetzlicher Orkan gewesen sein, der sich etliche tausend Kilometer nach Süden ausgedehnt hat. Entwickelt hat er sich wohl einige tausend Kilometer von der Zentrale entfernt. Deshalb will mir scheinen, daß die Hypothese, die Basen seien von einem Orkan verwüstet worden, manches erklärt. Beispielsweise ist wohl klar, daß die Menschen sich im anderen Falle in Hubschraubern bis zur Zentrale hätten retten können. Daß es niemand getan hat, besagt ja, daß es einen Orkan gegeben hat. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Unklar bleibt nur, weshalb er überhaupt aufkam. Was kannst du noch sagen, Henry?“
„Gar nichts. Der Orkan und die Selva. Keiner ist darauf vorbereitet gewesen.“
„Gut. Sven, jetzt bist du an der Reihe.“
„Von der Zentrale bis zur zweiten Basis habe ich vier Energiebarrieren gezählt. Auf dem Rückflug sind wir von jeder zurückgestoßen worden und abgeprallt wie ein Korken aus dem Wasser. Demnach nehmen die Barrieren die elektromagnetischen Wellen auf und werfen sie zurück. Deshalb erhielten die Basen keine Verbindung mit der Zentrale.“