Irgendwie müssen sie also doch zusammenhängen.“
18
Eva bereitete Tee und belegte Brote gleich am Verbindungspult zu. Sie hatten alle schon lange nichts mehr gegessen. Osa blieb weiter am Fenster stehen. Zuweilen versuchte Eva, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber es geriet sehr rasch wieder ins Stocken. Eva setzte sich einige Male ihr gegenüber auf das Fensterbrett und betrachtete sie verstohlen. Sie hatte Osa schon vorher gekannt. Eine plötzlich aufgetauchte Vermutung ließ ihr keine Ruhe mehr, doch sie hatte keinen Mut, laut zu äußern, was sie dachte. Irgend etwas hielt sie davon ab. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes sah Erli den Inhalt der Kiste durch, die von der zweiten Basis mitgebracht worden war. Er legte die Diagramme stoßweise aufeinander. Das Papier war häufig beschädigt, deshalb hantierte er äußerst sorgsam. Selbst wenn auf der zweiten Basis alle registrierenden. Apparaturen ununterbrochen Tag und Nacht in Betrieb gewesen wären, hätte noch längst nicht diese ungeheure Menge an Dokumenten zustande kommen können. Das fiel ihm sofort auf. Er blätterte die Stöße mit den grafischen Darstellungen in der Hoffnung durch, so etwas wie einen Brief oder eine Erklärung zu finden.
Die Kiste war aber schon fast leer, und er hatte nichts dergleichen gefunden. Da knüpfte er die Päckchen auf, und gleich das erste fiel ihm aus der Hand. In der Ecke jedes Diagramms stand ein Datum. Doch das waren recht seltsame Daten. Das erste lautete: „Zweitausendeinhundertfünfundneunzigster Tag nach der Katastrophe“. Er blätterte das gesamte Päckchen durch, und am Ende war er beim zwanzigsten Tag angekommen. Noch frühere Daten gab es auf den Diagrammen nicht.
Das eine Päckchen enthielt Aufzeichnungen über die Windgeschwindigkeit, im anderen waren die Temperaturen notiert, im nächsten der Luftdruck, dann die Beschleunigung der Zeit, für zwei Plätze, die nur zehn Meter voneinander entfernt waren.
Das war ein unbeträchtlicher Abstand für eine derartige Untersuchung.
Was gab es hier für Zahlenangaben! Besonders für die ersten Tage. Ja, für die ersten. Aus dem Diagramm ging auf den ersten Blick hervor: In der zweiten Basis waren seit dem Moment der Katastrophe fünfzehn Jahre vergangen. Dann brachen die Aufzeichnungen ab. Von den allerersten Tagen gab es wahrscheinlich deshalb keine Aufzeichnungen, weil die Menschen mit der Selva um ihre Existenz gerungen hatten. Sie waren am Leben geblieben, und jetzt half ihre Arbeit Erli beim Orientieren in den bisherigen Ereignissen.
Vieles davon konnte man jetzt richtig einordnen. Es war nun klar, warum Sven versichert hatte, daß sich die Sonne während ihres Aufenthaltes in der zweiten Basis nicht einmal für eine Winkelsekunde von der Stelle bewegt hatte. Klar war ebenfalls, weshalb sie behauptet hatten, sie seien sechs und nicht vier Stunden geflogen. Selbst wenn sie in der zweiten Basis einige Tage lang gewesen wären, hätten sie bei ihrer Rückkehr in die Zentrale immer wieder erfahren, daß inzwischen nur vier Stunden vergangen waren. Der Wechsel von Tag und Nacht, also eine Umdrehung des Eremiten um seine eigene Achse, bedeutete für die gesamte Breite der zweiten Basis anderthalb Jahre.
„Eva“, rief er dem Mädchen zu.
Sie kam zu ihm und setzte sich neben ihn.
„Eva, alles, was Seona gesagt hat, ist völlig richtig. Sie hat wirklich zwanzig Jahre dort gelebt. Staunst du?“
„Ich hab’ noch nicht begriffen. Aber ich wollte dir ja immer schon sagen: Dieses Mädchen ist nicht Osa.“
Jetzt war es Erli, der sie verwundert ansah.
„Sie sieht Osa sehr ähnlich, erstaunlich ähnlich. Doch sie ist nicht Osa. Henry war nur über die Begegnung mit ihr zu sehr aufgeregt, denn es war doch wirklich ein Wunder, daß sie noch am Leben war. Später dachte er, Osa habe den Verstand verloren. Bald wird er selbst den Unterschied feststellen… Du sagst also, sie hat dort zwanzig Jahre lang gelebt? Als mir klar wurde, daß sie nicht Osa ist, habe ich mir gesagt: Vielleicht haben diese Fremdlinge irgendwie für ihre eigenen Zwecke und Ziele eine Osa geschaffen, die Frau eines der Männer, die noch am Leben sind. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen. Wenn du aber nun sagst… Demnach ist sie Osas Tochter. Und alles, was sie sagt, ist die reine Wahrheit.“
„Ja, einiges hellt sich allmählich auf, doch es gibt noch viele unklare Stellen. Eva, gib dieses Material in den Computer und dazu das Programm über die Beschleunigung der Zeit auf verschiedenen Breitengraden des Eremiten. Ich glaube, dabei wird etwas Fürchterliches herauskommen. Ich werde gleich mal Henry fragen, an welchen Stellen sie den Energiegürtel durchflogen haben. Unter Umständen stellt sich heraus, daß es gar keine Energieschwellen und — barrieren sind.“
Erli verließ den Raum und öffnete, nachdem er an einigen Zimmern vorbeigegangen war, die Tür zum Laboratorium für Informationsaufzeichnung. Henry sollte sich hier die aufgezeichneten Gespräche mit der Zentrale anhören, die hier gemacht wurden, als sie einige Male durch die Energiebarriere hindurchgeflogen sind.
Henry saß da und hatte den Kopf auf die Montagetafel fallen lassen. Um ihn herum lagen die Aufnahmekristalle, das Tonkabel und eine leere Tonbandkassette.
„Henry“, Erli klopfte ihm auf die Schulter, „ich will dir nur sagen… Du mußt jetzt tapfer sein… Es ist nicht Osa, Henry.“
Wirt hob sein blasses, müdes Gesicht zu ihm empor und nickte ein paarmal. „Ich weiß es bereits, Erli. Sie ist meine Tochter Seona. In Osas Ring war ein Aufnahmekristall. Den Ring hat mir Seona übergeben. Osa hat mir darauf alles mitgeteilt. Es hat natürlich nur eine Minute gedauert.“
„Henry, hier hat jeder jemanden oder etwas verloren.“
Erli blieb noch einen Augenblick stehen, dann ging er schweigend hinaus, kam aber gleich darauf wieder zurück.
„Ich wollte dich fragen, Henry, bei welchen Breitengraden habt ihr die Energiebarrieren durchflogen?“
Henry nannte die Grade und fügte hinzu: „Doch das waren gar keine Energiebarrieren.“
„Dacht’ ich’s mir doch!“
„Das waren die Grenzen der Gebiete, in denen die Zeit unterschiedlich vergeht. Je größer die Entfernung vom Äquator ist, um so rascher vergeht sie. Hör dir das mal an!“
Er hielt die rotierende Kassette an, legte ein Band ein und schaltete das Gerät wieder ein. Im Zimmer erklang ein schrilles, hohes Geheul.
„Das ist die tiefste Frequenz von Niks Stimme. Und hör das an.“
Er änderte die Geschwindigkeit. Aus dem Lautsprecher tönte es: „Ich rufe Wirt. Hier Traikow. Ich rufe Wirt!“ Die Worte wurden viele Male wiederholt. „Was ist bei euch vor sich gegangen?“
„Hinter der ersten Stufe vergeht die Zeit zwanzigmal schneller als bei uns. Um wieviel schneller sie hinter der zweiten ist, weiß ich nicht. In der zweiten Basis vergeht sie jedenfalls fünfhundertmal schneller.“
„Deshalb wurdet ihr auf jeder Stufe gepreßt und gedrückt.
Die Zeit vergeht schneller, und man braucht einen sehr starken Energieimpuls, um in diesen Zeitstrom einzutreten. Darum hat sich auch ›Veilchen‹ ohne allen ersichtlichen Grund plötzlich gedreht. Sein Energieimpuls war viel zu niedrig“, überlegte Erli.
„Was werden wir jetzt machen?“ fragte Wirt.
„Ich werde die Unterlagen Eva geben, damit sie alles in den Computer einführen kann. Sobald wir das Ergebnis haben, werden wir Sven und Nik davon unterrichten. Und was wirst du Seona sagen?“
„Ich werde sie das hier anhören lassen“, entgegnete Henry und öffnete seine Hand, in der er den Ring mit dem Stein hatte.
In die andere Hand nahm er den kleinen Aufzeichnungsapparat und die Berechnungen von den Kristallen, dann gingen beide auf den Korridor.
Erli gab Eva die zur Lösung der Aufgabe notwendigen Unterlagen. Henry setzte sich neben Seona. Sie lächelte ihn an. Es war zu spüren, daß sie sich nicht so recht wohl fühlte. Schließlich geht es jedem Menschen so, der sich plötzlich inmitten guter, aber immerhin doch unbekannter Menschen sieht!