„Seona“, sagte Henry, „ich werde dir nichts erklären. Ich heiße Henry Wirt. Hör dir das hier an.“ Er befestigte den Ring in der Haltevorrichtung und schaltete den Apparat ein. Eine traurige, leise Stimme erklang; „Guten Tag, Henry, mein Geliebter.“
Erli nahm Evas Hand, und beide verließen den Raum.
„Ich wollte das Alter der sterblichen Überreste von Esra und Jumm ermitteln“, sagte Erli. „Das muß unbedingt geschehen.“
„Ich werde dir dabei helfen.“
„Nein, das mache ich allein. Es ist nicht sehr kompliziert. Ich weiß nur nicht, wo sich das Laboratorium befindet.“
„Du mußt diesen Korridor zum nördlichen Flügel entlanggehen. Dort ist ein Hinweisschild.“
„Eva, bald werden die Berechnungen fertig sein. Geh hin und paß gut auf.“
„Mir ist jetzt nicht danach zumute, dorthin zu gehen. Ich werde dich begleiten.“
„Du bist ja wirklich gut! Wohin sollte man hier schon jemanden begleiten! Es ist ja alles nahebei!“
„Trotzdem — macht nichts.“
Sie waren kaum ein paar Schritte gelaufen, als sich eine Tür öffnete, in der Henrys Kopf erschien.
„Wohin seid ihr denn gegangen?“ rief er ihnen hinterher.
„Eva, geh du zu ihm. Ich komme schnell zurück.“
Erli schleppte sich den Korridor entlang und blieb zuweilen vor Müdigkeit erschöpft stehen. Dort, wo der Korridor die Linie des Äquators schnitt, konnte er seiner Wißbegier keinen Einhalt mehr gebieten, und er warf einen Blick in den Ingenieurbereich. Er wußte, was er sehen würde, und er hatte sich nicht geirrt. Dieser Saal war ebenfalls etliche hundert Jahre alt.
Überall lag hundertjähriger Staub. Ungefähr zweihundert Meter weiter fand er auf dem Korridor das Laboratorium, das er suchte, und nahm sich dort einen kleinen Apparat. Dann fuhr er mit der Rolltreppe in das oberste Stockwerk der Zentrale, blieb ein paar Sekunden neben der durchsichtigen Kuppel stehen und versuchte, die Gestalten von Sven und Nik auf dem vierten Speicher zu erkennen, aber er konnte nichts sehen.
Im Hauptpult begegnete er ständig Esra und Jumm, die immerzu über etwas zu streiten schienen. Er beachtete sie jedoch überhaupt nicht mehr. Sie lebten wohl in einem völlig anderen Zeitmaß.
Die Analyse der Überreste der beiden Menschen ergab, daß sie vor anderthalbtausend Jahren gestorben waren. Fünf Minuten später war Erli im Verbindungsraum. Henry war nicht mehr dort. Wahrscheinlich hatte Sven ihn zu sich gerufen. Die Unbekannten schienen irgend etwas im Schilde zu führen.
Henry war mit dem zweiten Mehrzweckmobil zu dem vierten Speicher gefahren.
Eva hatte ihn, seltsam verstört, getroffen.
„Erli! In der zwanzigsten Basis sind ungefähr sechshundert Jahre vergangen. Sie leben schon längst nicht mehr!“
19
Sven und Nik sprangen in den Fahrstuhl und fuhren nach unten. Nikolai sagte im Vorbeigehen: „Erli! Ihr Mehrzweckmobil ist aufgetaucht. Sie kommen vom Speicher herunter. Es ist anzunehmen, daß sie gleich zur Zentrale fahren. Wir begeben uns gleichfalls nach unten zu den Mehrzweckmobilen.“
„Macht euch auf den Weg zur Zentrale! Gebt euch Mühe, daß sie euch nicht sehen!“
Doch man hatte sie bereits entdeckt. Das zweitürmige Mehrzweckmobil mit seinen vielen Rohren, die in verschiedene Richtungen gedreht waren, kam plötzlich hinter dem vierten Speicher hervorgeschossen. Henry lenkte seine Maschine nach vorn und stellte sie quer, damit Sven und Nik die Möglichkeit haben sollten, sich hinter ihrer Maschinenpanzerung zu verbergen. Die Unbekannten waren offensichtlich nicht auf eine Begegnung mit irgend jemandem vorbereitet gewesen. Ihr Mehrzweckmobil blieb ruckartig stehen und schaukelte auf den Stoßdämpfern hin und her. Henry fuhr weiter. Ein schwerer Blaster lag neben ihm auf dem Sitz, aber während der Fahrt hätte er ihn sowieso nicht verwenden können. Ein Mehrzweckmobil war eben kein Kampffahrzeug!
Ein paar Minuten ließen sich die Unbekannten überhaupt nicht sehen. In ihrem Mehrzweckmobil schien niemand zu sitzen. Alles war still. Sven hatte inzwischen seine Maschine neben die von Henry stellen können. Das fremde Mehrzweckmobil bewegte sich ein Stück vorwärts. Dasselbe taten Sven und Henry. Der Abstand zwischen den beiden Maschinen hatte sich bis auf ein paar Meter verringert. Nikolai meldete alles, was sich ereignete, an Erli weiter.
„Kommt zurück zur Zentrale!“ schrie Erli.
„Dann werden sie mit uns mitfahren“, erwiderte Nik.
„Das können sie ruhig machen! Hier sind wir dann doppelt soviel!“
„In Ordnung.“
Die Unbekannten ließen keinerlei aggressive Absichten erkennen. Das Gegenteil war der Fall, denn aus den Türmen verschwand ein Rohr nach dem anderen von der unbekannten Waffe.
Dann wurde eine Luke des Mehrzweckmobils geöffnet, und es schaute ein Mann von bronzener Hautfarbe hervor, die in den Strahlen der untergehenden Sonne golden glitzerte. Er rief irgend etwas, doch die Worte waren nicht zu verstehen.
„Erli, sollen wir auch aussteigen?“ fragte Traikow.
„Wartet mal! Hat Henry euch berichtet, was sich noch herausgestellt hat?“
„Nur kurz.“
„Dann hört mal zu. Diese Unbekannten spielen dabei gar keine Rolle. Als Esra an die Basen das Zeichen zur Evakuierung gegeben hatte, war es schon zu spät. Sprunghaft trat an den Polen des Eremiten eine Zeitbeschleunigung ein, die ins Riesenhafte anstieg. In der zwanzigsten Basis verging die Zeit zwanzigtausendmal schneller als bei uns in der Zentrale. Am Südpol hingegen zwanzigtausendmal langsamer. Zum Äquator zu nahm dieser Multiplikator allmählich ab. Dadurch ist ein noch nie dagewesener Orkan hervorgerufen worden. Die Luft aus dem Bereich der blitzschnell vergehenden Zeit ist in den benachbarten Bezirk abgedrängt worden, wo die Zeit gemächlich verging. Der Orkan hat im Nu die gesamte nördliche Halbkugel erfaßt. Dann wurde die regelmäßig ansteigende Kurve der sich verändernden Zeitbeschleunigung durch eine stufenförmige Linie abgelöst. An den Grenzen toben sogar jetzt noch Stürme. Alle Basen waren fast im Handumdrehen zerstört. Alles übrige hat die Selva gemacht. Der Grund für einen derartigen sprunghaften Wechsel der Zeit ist nicht bekannt. Nun ist außerdem noch die Sache mit diesen Unbekannten zu klären. Von den Basen aus können sie nicht hierhergekommen sein, denn falls nach dem Orkan überhaupt noch jemand am Leben geblieben wäre, könnte er jetzt gewiß nicht mehr leben… Es sind seitdem viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergangen. Die Unbekannten können demnach mit dem Eremiten nichts zu tun haben.“
Der Mensch mit der bronzefarbenen Haut stand bereits neben dem Mehrzweckmobil von Henry und versuchte, durch Zeichengebung irgend etwas auszudrücken.
„Ich glaube, er bittet darum, ihn in die Maschine zu lassen.
Soll ich ihn einsteigen lassen? Er hat keine Waffe bei sich.
Und überhaupt scheinen sie insgesamt recht friedlich zu sein.“
„Er soll lieber erst mal erklären, was er will.“
Henry schob sich halb zur Luke hinaus und versuchte, durch Zeichensprache zu fragen, was sie möchten, doch er hatte keinen Erfolg damit. Da fragte er ganz einfach: „Was wollt ihr hier in der Zentrale?“
Der Bronzemann kam sehr nahe an das Mehrzweckmobil heran. Henry wiederholte seine Frage.
„Kosales! Wir brauchen Kosales!“
Für einen Augenblick war Henry starr vor Schreck, doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt und gab durch das Mikrofon durch: „Erli! Sie möchten dich sprechen!“
„Mich? Wieso, reden sie denn unsere Sprache?“
„Auf jeden Fall habe ich ihn verstanden.“
„Nimm ihn in deine Maschine und fahr schnellstens hierher.