Sven soll vorläufig mit seinem Mobil dort bleiben. Das Mehrzweckmobil der Unbekannten lassen wir besser vorläufig nicht herkommen.“
„Verstanden“, erwiderte Henry und bedeutete dem Mann durch Zeichen, daß er einsteigen könne.
Wenige Minuten später waren sie neben dem Haupteingang zur Zentralstation. Beide sagten kein Wort. Henry führte den Unbekannten in den Verbindungsraum. Der Unbekannte ging etwas erschrocken über die Türschwelle und sagte: „Guten Tag! Ich brauche Kosales!“
„Das bin ich“, erwiderte Erli und erhob sich zur Begrüßung.
Der Unbekannte trat rasch auf ihn zu und streckte ihm seine Hand entgegen. Erli schüttelte sie mißtrauisch.
„Wir sind seit ungefähr dreihundert Jahren hierher unterwegs“, sagte der Unbekannte. „Jedenfalls sind in der Großen Stadt inzwischen dreihundert Jahre vergangen. Uns hat Konstak geschickt. Natürlich lebt er selbst längst nicht mehr. Er ist schon lange, lange tot. Er hat uns aber ein Aktionsprogramm hinterlassen. Vor uns hat es bereits andere Expeditionen gegeben. Doch offensichtlich sind sie gar nicht bis hierher gekommen, weil das hier noch existiert“, er zeigte mit den Händen rings um sich.
„Was existiert?“ fragte Erli zurück.
„Die Station hier. Wir müssen sie vernichten. So steht es in Konstaks Programm.“
„Wer ist denn dieser Konstak, und was ist das für eine Große Stadt?“
„Konstak war ein sehr großer Gelehrter. Habt ihr wirklich noch nie von ihm gehört?“
„Wie soll ich ihn denn kennen, wenn ihr dreihundert Jahre hierher unterwegs gewesen seid! Da habe ich doch überhaupt noch nicht gelebt! Und was ist mit der Großen Stadt? Ist das ein Planet?“
Der Unbekannte schüttelte den Kopf.
„Ein Sonnensystem?“
„Nein.“
„Was denn sonst? Eine Galaxis?“
„Nein, auch nicht… Ich brauche einen Globus.“
Ein Globus ließ sich aber beim besten Willen in der nächsten Umgebung nicht auftreiben.
„Das ist eine ehemalige Basis, versteht ihr. Früher hat man sie von der Zentrale aus in zehn Stunden erreichen können.
Jetzt benötigt man dazu dreihundert Jahre. Wir sind keine Physiker. Wir führen lediglich das Programm von Konstak aus.
Darin heißt es, daß wir Kosales finden müssen, falls wir die Speicher nicht selbst vernichten können. Wir haben auch einen Brief. Aber er ist schon sehr alt. Beim Lesen muß man sehr behutsam und vorsichtig sein. Konstak hat ihn selbst geschrieben.“
„Mit was für einem Fahrzeug seid ihr denn von der Großen Stadt in die Zentrale gekommen?“
„Auf Mehrzweckmobilen. Wir hatten fünf davon. Nur eins ist bis hierher gekommen. Alle anderen sind gescheitert.“
In Erlis Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Sie kamen doch wohl von der zwanzigsten Basis! Aber seit dreihundert Jahren waren doch dort alle schon tot! Wieso konnten sie dann hierhergekommen sein?
„Konstak — heißt das etwa Konrad Stakowski?“ schrie er.
„Ja, richtig. Konrad Stakowski. Aber im allgemeinen nannte er sich nur Konstak.“
„Sven!“ schrie Erli durchs Mikrofon. „Komm mit deinem Mehrzweckmobil hierher! Auch das von diesen Leuten mußt du mitbringen. Es sind welche von uns! Von der zwanzigsten Basis!“
„Wieso denn von der zwanzigsten? Ist wohl wieder eine neue Hypothese, wie?“
„Nein, Sven, eine ganz alte! Es ist jetzt alles klar. Bring sie so schnell wie möglich her!“
Der Bronzemann schaute verwirrt um sich.
„Wieviel Leute sind in dem Mehrzweckmobil?“
„Elf. Ich bin der zwölfte. Acht Mann sind umgekommen.“
„Wie heißen Sie?“
„Enrico.“
„Sie haben doch bestimmt einen Wolfshunger, nicht wahr?
Wir ebenfalls. Eva und Seona! Ich möchte euch bitten…“
Die Mädchen hatten bereits alles verstanden. Sie hatten die Automaten für die Speisenzubereitung eingeschaltet und zurechtgemacht.
Wenig später betrat eine lärmende Schar von Bronzemenschen die Zentrale. Sven und Nik kamen ihnen mißtrauisch hinterher mit Blastern auf dem Rücken.
„Werft dieses Spielzeug weg!“ sagte Erli zu ihnen.
Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, berichtete Enrico:
„Als man auf der Basis das Signal zur Evakuierung erhalten hatte, kam sofort ein unheimlich heftiger Orkan auf. Die Basis wurde zerstört. Zum Glück war das die Basis mit den meisten Menschen. Auf ihr waren vierzehn Mann. Gleich nach den ersten Minuten war es einer weniger. Alle übrigen hatten sich in den Kellergeschossen der Station in Sicherheit bringen können. Aus diesen Kellern sind sie erst nach fünf Jahren wieder herausgekommen. Und erst dreißig Jahre später hatten sie das Gelände der Basis einigermaßen von der Selva befreit.
Doch das Problem des Hungertodes war für sie noch nicht gelöst. Zu dieser Zeit starb Konrad Stakowski. Mit der Zeit hatten sie eine Methode herausgefunden, die Schleimsäckchen und die Gleitpflanzen in etwas Eßbares umzuwandeln. Dann kam der vierzigjährige Winter, verbunden mit stockdunkler Nacht.“
„Aber alle, die dort auf der Basis waren, mußten doch sterben?“
„Konrad Stakowski hat von Anfang an gewußt, was sich auf dem Eremiten abspielte. Deshalb ordnete er an, daß sich einer unbedingt zur Zentrale durchschlagen müsse. Alle, die von Anbeginn auf der Basis gelebt hatten, konnten daran nicht einmal im Traum denken. Von den Frauen wurden Kinder zur Welt gebracht. Nach dreihundert Jahren, als wir abflogen, gab es dort bereits ungefähr sechshundert Menschen. Jetzt werden es bestimmt schon viel mehr sein. Aber der Eremit muß untergehen. Es ist auf ihm ein Zeitgenerator entstanden. Sein Ausstrahlungsring läuft um den Äquator. Wenn die Zeit am Pol des Eremiten einmal so verlaufen wird wie die Zeit in diesem Ring, tritt eine Übersättigung ein, und der Eremit wird auseinandergetrieben. Wann das passieren wird, wußte Stakowski nicht.“
„In fünfzehn Tagen“, sagte Erli. „Dieser Strahlenring ist anderthalbtausend Jahre alt.“
„Er muß in möglichst großer Entfernung zur Explosion gebracht werden. Darum müssen die Energiespeicher und die Zentrale gesprengt werden. Wir haben die Energievorräte festgestellt. Es ist genügend vorhanden, doch wir kennen das Schema nicht, nach dem die Speicher untereinander gekoppelt sind. Auf der Basis wußte das niemand. Es gab dort keine Ingenieure. Fünfzehn Tage können wir jedoch nicht warten.
Die Zentrale muß so rasch wie möglich in die Luft gesprengt werden. In der Großen Stadt geht es drunter und drüber, sie kommen dort nicht mehr weiter. Es geht ihnen miserabel.“
„Man kann Lebensmittel für sie mit den Hubschraubern abwerfen“, sagte Sven.
„Nein“, entgegnete Erli. „Die Energiebarriere ist dort sehr hoch.“
„Und ›Veilchen‹?“
„›Veilchen‹ kann nur mit geringer Geschwindigkeit landen.
Außerdem gibt es dort gar keinen Landeplatz.“
Nach dem Mittagessen machten sich alle langsam an die Arbeit. Die meisten mußten unter Erlis Anleitung verschiedene wertvolle Apparaturen, Ausstattungen, Forschungsunterlagen und alles, was nötig war und gebraucht wurde, damit die Eremitenkolonie nach der Vernichtung der Zentrale bis zur Ankunft der ›Warszawa‹ weiterexistieren konnte, in der ›Veilchen‹ verladen und verstauen.
Das Schema für die Koppelung der Speicher wurde nicht gefunden. Das erschwerte die Aufgabe beträchtlich. Um dieses Knäuel zu entwirren, würden sie wahrscheinlich noch länger als fünfzehn Tage benötigen.
Da erinnerte sich Erli daran, was auf der Papierrolle dargestellt war, die er bei Esra und Jumm gesehen hatte. Er zweifelte nun nicht mehr länger, daß sie in einer völlig anderen Zeitmessung lebten, wo außer der Zentrale und ihnen selbst niemand und nichts existierte. Ihnen war klar, was mit ihnen geschehen war, weil sie das Experiment geleitet hatten. Daß es sich um ein Experiment gehandelt haben mußte, dachte sich Erli. Beide konnten die Konsequenzen dieses Experiments ermessen, als es sich ihrer Kontrolle entzogen hatte.