Esra und Jumm waren besonders häufig im Hauptpult und im Verbindungsraum erschienen, als vermuteten sie, daß dort Menschen sein müßten. Sie hatten das für die anderen nicht existente Schema sehr oft aufgerollt und wohl damit auffordern wollen, es abzuzeichnen. Bis zum Sonnenuntergang hatte Sven das geschafft.
Gegen Mitternacht war alles fertig zur Sprengung.
Traikow sollte mit „Veilchen“ aufsteigen und so lange auf der Umlaufbahn des Eremitensputniks bleiben, bis irgendwo ein Landeplatz vorbereitet worden war.
Die anderen mußten mit den Hubschraubern fliegen. Man mußte sie unbedingt schützen… Konrad Stakowski hatte das Programm für die Sprengung der Energiespeicher so ausgearbeitet, daß die Zeitbeschleunigung, ob positiv oder negativ, nicht sprunghaft aufgehoben würde, sondern gleichmäßig. Ein zweiter zerstörender Orkan mußte auf alle Fälle vermieden werden.
Zu Beginn der ersten Nacht startete „Veilchen“. Bald darauf hörten sie die ruhige Stimme Traikows: „Alles in Ordnung.“
Etwas später verließen zwei Lasthubschrauber mit Menschen an Bord die Zentrale, von Erli und Sven gesteuert. Die anderen Hubschrauber flogen ohne Piloten ab. Sie waren mit einem Flugprogramm ausgestattet.
Gemeinsam mit Erli flogen Eva und ein paar Leute von der zwanzigsten Basis.
„Jetzt erinnere ich mich“, hörten sie plötzlich Traikows Stimme. „Ich erinnere mich jetzt, wo ich die Schaukel gesehen habe! Sie ist an die Wände der Zentrale gezeichnet! Unmittelbar am Äquator verläuft ein regelmäßiger Streifen, parallel zur Erde. Der Neigungswinkel dieser Schaukel wird dann nach Süden und Norden zu immer größer. Das Zeichen für diesen Winkel ist nicht immer dasselbe. Am nördlichen Pol ist es positiv, am südlichen negativ.“
„Schade, daß es nun zu spät zum Umkehren ist“, sagte Erli.
„Eigenartig! Alle haben sie gesehen, aber es ist ihnen nicht zum Bewußtsein gekommen.“
Die Hubschrauber flogen in einer geschlossenen Gruppe, die sich vom Äquator nach Osten entfernte und kaum merklich Kurs auf Norden nahm.
20
Als sie sich ungefähr fünfhundert Kilometer von der Zentrale entfernt hatten, war eine Explosion zu hören. Am nächtlichen Himmel loderte es hell auf.
Eine Stunde später waren im Äther die Worte zu hören:
„Wozu diese Evakuierung? Esra, was ist dort bei euch los?“
Das wurde von der neunzehnten Basis aus gesprochen, die fast am Südpol lag. Seit der Katastrophe waren dort erst wenige Minuten vergangen.
Erli lächelte nervös.
„Eva, sag ihnen, sie sollen alle auf ihren Plätzen bleiben.
Henry wird ihnen eine Mitteilung durchgeben.“
Dann flogen sie in Richtung auf die zwanzigste Basis.
Erli schaltete die Selbststeuerung ein und zog zwei Briefe aus seiner Tasche. Einer war von Konrad Stakowski, der andere von Lej.
„Sei gegrüßt, Erli!“ schrieb Lej. „Ich hätte dich so gern noch einmal gesehen…“
Er faltete den Brief zusammen und wollte ihn zerreißen, doch er überlegte es sich anders und legte ihn Eva aufs Knie, die neben ihm saß. „Irgendwann wirst du ihn einmal lesen“, sagte er.
Sie schüttelte nur verneinend den Kopf.
„Erli!“ hatte Konrad Stakowski geschrieben. „Wir haben immerhin erreicht, was wir wollten. Wir können die Zeit lenken und dirigieren. Ich bin überzeugt, daß du unser Werk fortsetzt. Ich habe die Vorstellung, daß die Zeit an einem Pol beschleunigt, am anderen verlangsamt wird. Das bedeutet, daß die Menschen Experimente, für die sie früher Jahre gebraucht haben, in Sekundenschnelle durchführen könnten. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was die Menschheit alles erreichen könnte, wenn sie in die Lage versetzt ist, die Zeit zu dirigieren, das heißt, ihr zu befehlen, sich dem Willen der Menschen unterzuordnen und nach deren Gutdünken zu vergehen…
Es ist sehr schade, daß diese Entdeckung eine Katastrophe zur Folge hatte. Doch ich hege die Überzeugung, daß du die Arbeit weiterführst; ich bin bemüht, dir dabei zu helfen…
Falls der Journalist in dir den Physiker besiegen sollte, hast du hier den Anfang deines Buches.
Wir haben nicht in Erfahrung bringen können, was für eine Zivilisation auf dem Eremiten ihre Spuren hinterlassen hat.
Vielleicht hat es überhaupt keine andere Zivilisation gegeben.
Möglicherweise wird diese Anlage in zwanzig Jahren auf der Erde gebaut und hierher auf den Eremiten übertragen, in der Zeit versetzt. Auf der Erde werden ja schon seit langem Untersuchungen durchgeführt, die das Ziel haben, die Zeit zu beherrschen, sie zu lenken und zu dirigieren. Esra und Jumm haben für diese Idee gelebt.
Wir haben sehr lange nicht begreifen können, was die Zentrale mit ihren Energiespeichern und Basen eigentlich darstellte.
Doch dann entdeckten wir den Strahlungsring des Eremiten und haben daraus allmählich gefolgert, daß man damit experimentell die Möglichkeit eines wechselseitigen Übergangs von Zeit und Raum ausprobieren konnte. Die Hauptgruppe der Expedition hat sich mit der Untersuchung des Eremiten beschäftigt. Sie versuchte herauszufinden, was eigentlich auf dem Eremiten vorhanden war. In einer der zahlreichen Räumlichkeiten der Zentrale wurden Arbeitsaufzeichnungen gefunden. Es waren gewöhnliche Arbeitsaufzeichnungen, denen man nicht viel entnehmen konnte, doch immerhin war es etwas. Wir haben daraus ersehen, daß jemand bereits versucht hatte, Experimente mit Zeit und Raum anzustellen. Das erstaunlichste daran war, daß diese Notizen in einer Sprache der Erde vorgenommen worden waren. An einigen Stellen stand deine Unterschrift.
Ich unterhielt mich mit Lej darüber. Sie sagte mir, sie habe von dir keinerlei Notizen, keine Dokumente, rein gar nichts.
Ich konnte es nicht begreifen, wo du dich schon einmal mit derartigen Experimenten hättest beschäftigen können. Mir war jedenfalls darüber nichts bekannt.
Auf unser Experiment haben wir uns mit aller Sorgfalt vorbereitet. Vier Tage, nachdem ›Veilchen‹ vom Eremiten abgeflogen war, bestand Eva darauf, mit dem Experiment zu beginnen.
In der Zentrale verblieben lediglich Esra, Jumm und Eva.
Alle anderen flogen mit den Hubschraubern in die Basen. Es mußte ein großangelegtes Experiment sein, doch wir hatten nicht genügend Leute.
Am elften Tag um sieben Uhr meldeten alle zwanzig Basen, daß sie zur Durchführung des Experiments bereit seien. Das Experiment begann sieben Uhr fünfzehn. Esra gab die Kommandos über die Außenverbindung durch und schaltete die Energiespeicher ein. Jumm bearbeitete die Ergebnisse des Experiments mit dem Computer und führte im Programm des Experiments Änderungen und Korrekturen durch.
Bis gegen acht Uhr lief alles genauso wie in den kleineren, vorbereitenden Experimenten… Die Speicher gaben siebzig Prozent der Energie ab, dabei wurde eine Veränderung der Raumkrümmung im lokalen Gebiet des Eremiten nicht festgestellt. Esra fing an, nervös zu werden. Ungefähr gegen acht Uhr drei signalisierten die Apparaturen eine Deformation des Raums. Die Zeitbeschleunigung war gleich null. Esra beschloß, das Experiment einzustellen. Jumm bestand auf seiner Wetterführung. Eine Minute später war klar, daß ihr Streit sinnlos war. Das Experiment war außer Kontrolle geraten. Esra schaltete die Speicher aus, doch die Deformation des Raums blieb bestehen. Das wurde von allen zwanzig Basen bestätigt.
Doch dann verschwand die Deformation, aber dafür setzte eine rasante Beschleunigung der Zeit ein, die sich ganz besonders am Äquator bemerkbar machte. An den Polen trat diese Zeitbeschleunigung nicht auf. Um acht Uhr zehn hörte die Zeitbeschleunigung auf, und die Apparaturen registrierten eine Raumdeformation. Die Zeitbeschleunigung war geringfügig.
Eine Sekunde in der Stunde.