Im Schütze einer gewaltigen Schutthalde machten sie einen Moment halt, um sich schreiend zu verständigen.
»... in den Wald!« verstand Charity. Hartmann schrie aus Leibeskräften, aber der Sturm übertönte ihn mit Leichtigkeit, so daß sie nur Wortfetzen verstand, »...zwischen den Ruinen erwischen sie uns! Wir müssen ... Wald erreichen ... paßt auf! Überall ... Dreckfresser!«
Sie taumelten weiter. Charity stürzte zweimal, und auch die anderen hatten alle Mühe, überhaupt noch von der Stelle zu kommen, als sie die freie Fläche vor dem Waldrand überquerten. Der Wind schien plötzlich mit doppelter Wucht über sie herzufallen. Aber irgendwie schafften sie es. Nach Minuten, die sich zu Ewigkeiten dehnten, brachen sie sich ihren Weg durch das dichte Unterholz. Das dichte Blattwerk und Gehölz bot sehr viel mehr Schutz vor den tobenden Orkanböen als die zerborstenen Ruinen, zwischen denen sich der Wind fing und noch mehr an Kraft gewann.
Charity blieb schwer atmend stehen. Voller Unbehagen sah sie sich um. Der Wald war so dicht, daß es ihr schon schwerfiel, Hartmann und die beiden Soldaten zu erkennen, die nur wenige Meter von ihr entfernt standen. Sie wollte zu ihnen hinübergehen, doch in diesem Moment zerriß ein hohes, schrilles Kreischen das Heulen des Sturmes, und ein gleißender Blitz durchzuckte die Dämmerung. Einen Augenblick später rollte der dumpfe Donner einer Explosion zu ihnen hinüber.
»Was war das?!« fragte Net erschrocken.
»Unser Wagen«, antwortete Hartmann finster. »Sie haben den Sender angepeilt. Verdammt!« Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch weiter. »Schneller, als ich geglaubt habe.«
»Dann sollten wir hier verschwinden«, sagte Skudder erschrocken.
Hartmann machte eine beruhigende Handbewegung. »Das ist nicht nötig. Wir sind hier in Sicherheit.«
»In Sicherheit?« Skudder lachte hart. »Eine einzige Lasersalve auf den Waldrand, und...«
»Das werden sie nicht tun«, unterbrach ihn Hartmann ruhig.
»Und wieso nicht?« erkundigte sich Charity.
»Sie tun es nicht«, sagte Hartmann. »Trotzdem sollten wir hier verschwinden. Es kann eine Stunde dauern, bis sie uns abholen. Falls die Maschine bei diesem Sturm überhaupt startet. Und diese verdammten Gleiter sind nicht die einzige Gefahr hier.«
Dicht beieinander gingen sie weiter, wobei Hartmann sorgfältig darauf achtete, daß sie den Wald nicht verließen, aber auch nicht weiter in ihn eindrangen. Sie kamen gut voran, obwohl sie manchmal an Hindernisse gerieten: klaffende Erdspalten, Mauerreste und Schuttberge, die vom wuchernden Grün des Waldes noch nicht ganz verschlungen worden waren, oder aber morastige Tümpel, in denen vielleicht Ameisenjunge hausten.
Sie waren etwa eine halbe Stunde unterwegs, als Kyle plötzlich einen halblauten Ruf ausstieß und warnend die Hand hob. Charity blieb abrupt stehen, und auch Hartmann und seine beiden Begleiter verhielten mitten im Schritt und sahen den Megamann fragend an.
»Was ist?« fragte Charity alarmiert.
»Ich ... bin nicht sicher«, antwortete Kyle. Ein Ausdruck angespannter Konzentration lag plötzlich auf seinen Zügen. »Aber irgend etwas ... kommt.«
»Irgend etwas?«
Kyle zuckte beinahe hilflos mit den Schultern. »Menschen«, sagte er schließlich. »Ziemlich viele. Fünfzehn - vielleicht zwanzig.«
»Was redet er da?« fragte Hartmann unwillig. »Sie kommen bei diesem Sturm nicht aus ihren Löchern.«
»Wenn Kyle sagt, daß sich jemand nähert, dann stimmt das auch«, antwortete Charity ruhig, aber in so bestimmtem Ton, daß Hartmann nicht mehr widersprach, sondern den Megamann mit noch größerem Mißtrauen anblickte.
»Ich höre nichts!« sagte Lehmann grob. »Verdammt, laß uns weitergehen! Wenn wir zu spät am Treffpunkt sind, können wir den Rest unseres Lebens hier draußen verbringen.«
Kyle beachtete ihn gar nicht. Behutsam lud er den Verwundeten von seiner Schulter, legte ihn zu Boden und richtete sich wieder auf. Sein Blick huschte über die schwarze Mauer des Waldrandes, blieb einen Moment prüfend an einem Schatten hängen und tastete dann weiter.
»Da ist ... noch mehr«, murmelte er. »Ich ... weiß nicht, was, aber...«
Trotz Kyles Warnung geschah alles andere völlig überraschend. Kaum einen Meter hinter Hartmann und seinen beiden Begleitern brach plötzlich ein großes, struppiges Etwas aus dem Wald, so schnell und mit solch ungestümer Kraft, daß der Leutnant und seine beiden Männer kaum die Zeit fanden, sich zur Seite zu werfen.
Der ersten Ratte folgte eine zweite und schließlich eine dritte und vierte. Die Tiere zerrten etwas mit sich, daß Charity im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte: Jeweils zwei von ihnen hatten ihre Fänge in einen ledrigen Sack von grauschwarzer, feuchter Farbe gegraben, in dem es unentwegt zuckte und bebte. Ihre Beute mußte sehr schwer sein, denn trotz ihrer enormen Kraft kamen die Ratten nur mühsam von der Stelle.
Hinter den Tieren stürmte mehr als ein Dutzend in Fetzen gehüllter Gestalten heran. Fast alle waren bewaffnet - mit Speeren und Keulen, einige auch mit primitiven Äxten und kurzen Bögen, auf die sie federlose Pfeile aufgelegt hatten. Und sie waren so auf die Verfolgung der vier Ratten konzentriert, daß sie das gute halbe Dutzend Menschen erst gewahrten, als sie praktisch schon vor ihnen standen.
Charity sah, wie Lehmann seine Waffe hob und auf einen der Männer anlegte; fast gleichzeitig richteten sich die Spitzen eines halben Dutzends Speere und Pfeile auf die drei Soldaten.
»Nein!«
Kyles Schrei ließ die Männer abermals erstarren. Mit einem einzigen Satz war der Megamann zwischen Hartmann und den Barbaren, breitete abwehrend die Arme aus und rief noch einmal mit laut schallender Stimme: »Nein! Nicht schießen!«
Lehmann versuchte, einen Schritt zur Seite zu machen, um freie Schußbahn zu bekommen, aber Kyle stieß ihn mit einer fast beiläufigen Bewegung zu Boden, so daß er stürzte und das Gewehr seinen Händen entglitt. Gleichzeitig deutete er mit der anderen Hand zuerst auf Charity, dann auf die Ratten, die den Waldrand schon fast erreicht hatten.
»Haltet sie auf! Erschießt sie! Sie dürfen nicht entkommen!«
Charity verschwendete keine Zeit mehr damit, über den Sinn dieser Worte nachzudenken. Sie fuhr herum, riß ihren Laser von der Schulter und gab zwei kurze Feuerstöße ab. Sofort schoß auch Skudder. Sie trafen nur eines der Tiere, das lautlos verendete, aber die grellen Laserblitze schienen den Ratten nicht unbekannt zu sein, denn sie ließen mit einem erschrockenen Quieken ihre Beute fallen und stoben in heller Panik davon.
»Was soll das?« fragte Hartmann erbost. Sein Blick wanderte unsicher zwischen Kyle und der Front zottiger, verdreckter Gestalten hin und her, die mit erhobenen Waffen einen Halbkreis um ihn und den Megamann bildeten. »Was...«
»Halten Sie den Mund!« unterbrach ihn Kyle grob. »Sie wollen nichts von uns. Sehen Sie das denn nicht?«
Selbst bei der herrschenden Dunkelheit konnte Charity sehen, wie Hartmann erbleichte. Aber Kyles Worte machten ihn nicht nur wütend - er war auch verwirrt. Wie Felss und Lehmann, der sich mittlerweile wieder auf die Knie erhoben und seine Waffe an sich gerafft hatte, hatte auch er sein Gewehr auf die Barbaren gerichtet. Aber er zögerte, abzudrücken.
Aus dem Wald kamen jetzt weitere Krieger. Charity schätzte ihre Zahl auf mindestens fünfzig. Selbst mit ihrer überlegenen Bewaffnung standen ihre Chancen nicht besonders gut, einen Kampf mit dieser Übermacht zu bestehen.
Aber die Barbaren rückten nur langsam näher, die Waffen drohend erhoben und einen grimmigen Ausdruck auf den Gesichtern. Schließlich lösten sich vier Gestalten und traten mit erhobener Waffe auf Skudder und Charity zu. Skudder hob drohend sein Lasergewehr, senkte den Strahler dann aber wieder und trat hastig einen Schritt zur Seite, als klar wurde, daß Charity und er gar nicht das Ziel der vier Krieger waren. Mißtrauisch traten die Barbaren zwischen ihnen hindurch und näherten sich den Kokons, die die Ratten bei ihrer Flucht fallengelassen hatten. Einer davon war aufgeplatzt; eine ölige, farblose Flüssigkeit quoll heraus und versickerte im Boden.