Trautman schwieg. Er sah nicht besonders begeistert drein, aber er schien auch einzusehen, daß Lady Grandersmith wahrscheinlich recht hatte. Es würde jetzt tatsächlich sehr viel schwieriger werden, noch einmal in die Stadt zu gehen und die Teile zu besorgen, die sie für die Reparatur der NAUTILUS benötigten. »Und außerdem ist da ja noch der versprochene Ausflug zu den Pyramiden«, erinnerte Lady Grandersmith. »Ich glaube nicht, daß es klug wäre, heute dorthin zu fahren. Für diesen Tag habt ihr alle genug Aufregung gehabt. Aber wir holen es morgen oder übermorgen nach. «
»Das ist keine gute Idee«, sagte Singh. Nicht nur Mike sah ihn stirnrunzelnd an -schließlich hatten sie sich alle auf den Ausflug zu den Pyramiden gefreut -, aber der Inder fuhr unbeirrt fort: »Sie haben vollkommen recht, Lady Grandersmith. Man wird nach uns Ausschau halten, entweder die eine oder die andere Seite. Und eine Gruppe wie die unsere fällt zwangsläufig auf. Selbst bei den Pyramiden. «
»Oh, das ist kein Problem«, antwortete Lady Grandersmith lächelnd. »Ich kenne den Mann, der die Führungen organisiert. Ich bin sicher, daß er für uns eine kleine Privattour veranstaltet.
Ganz unter uns und am Abend, wenn die Touristen nicht mehr
da sind. Und andere neugierige Augen. «
Es war nicht das erste Mal, daß Lady Grandersmith etwas in dieser Art sagte. Wahrscheinlich war ihr längst aufgefallen, daß Trautman, Singh und die anderen ein Geheimnis umgab und daß sie aus irgendwelchen Gründen Wert darauf legten, nicht zu viel Aufsehen zu erzeugen. Sie fragte nie direkt, aber es gelang ihr auch nicht, ihre Neugier ganz im Zaum zu halten. »Ich denke darüber nach«, sagte Trautman. Er hob rasch die Hand und warf einen Blick in die Runde. »Das heißt nicht zwangsläufigja,damit wir uns verstehen. «
»Aber auch nichtnein«,sagte Lady Grandersmith lächelnd. Sie stand auf. »Ich schlage vor, daß wir uns nach den schlimmen Ereignissen jetzt alle ein wenig Ruhe gönnen. In ein paar Stunden geht die Sonne unter, dann ist es kühler. Yasal wird uns das Abendessen zubereiten. Er ist ein ausgezeichneter Koch. « »Und was noch?« fragte Mike. Lady Grandersmith blinzelte. »Wie meinst du das?« Mike zögerte einen Moment, sprach aber dann doch weiter: »Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll. Aber er und Hasim... « Er suchte nach Worten. »Als wir in diesem Lagerschuppen waren«, sagte er schließlich, »und Yasal und sein Bruder auftauchten, da... da haben die Leute etwas geschrieen. « »So? Was denn?«
»Al Achawwiya al sauda'«, sagte Serena, ehe Mike antworten konnte. Sie sprach die fremdartig klingenden Worte ohne Akzent aus.
»Ja, genau«, sagte nun auch Juan. »Wir wissen nicht, was es heißt, aber es schien ihnen gewaltige Angst zu machen. «
Für eine Sekunde wirkte Lady Grandersmith regelrecht
erschrocken -aber dann begann sie zu lachen. »Al Achawwiya al sauda'« wiederholte sie. »Ja, jetzt verstehe ich. « Sie sah Yasal an und drohte ihm spielerisch mit dem Finger. »Yasal, wie oft soll ich euch noch sagen, daß ihr das lassen sollt?« »Was?« fragte Mike.
»Übersetzt heißt es ungefähr soviel wieDie Schwarze Bruderschaft«,antwortete Lady Grandersmith. »Es ist eine Legende. Nicht mehr. «
»Dafür hat es ihnen aber eine Menge Angst gemacht«, sagte Ben.
»Genau das sollte es auch«, meinte Lady Grandersmith mit einem jetzt eher amüsierten Seitenblick auf Yasal. »Die Schwarze Bruderschaft war angeblich ein Stamm von Beduinen, der tief in der Wüste gelebt und sich der Schwarzen Magie verschrieben haben soll. Es heißt, daß sie unsterblich und unverletzbar gewesen sein sollen und daß sie jedem, der mit ihnen in Berührung kam, den Tod brachten oder Schlimmeres. Natürlich ist es nur eine Legende. Aber Yasal und sein Bruder machen sich einen Spaß daraus, so zu tun, als gehörten sie dazu. Ich habe es ihnen schon ein paarmal verboten, aber manchmal sind sie eben wie die Kinder. Ich kann es nicht ändern. « Sie seufzte. »Heute hat es uns das Leben gerettet«, sagte Singh. »Ja, das ist richtig. « Lady Grandersmith nickte bestätigend. »Und nun endgültig Schluß mit diesem unangenehmen Thema. Wenn ihr wollt, erzähle ich euch heute abend die Legende der Schwarzen Bruderschaft in aller Ausführlichkeit, aber nun bin ich müde -und euch tun ein paar Stunden Schlaf sicher auch gut. Es sind Zimmer genug da, jeder kann sich eines aussuchen. Bis später dann. « Sie ging -ein bißchen überstürzt, fand Mike und mit ihr auch Yasal. Nach einem Augenblick stand auch Mike auf, um ins Haus zu gehen, aber Ben rief ihn noch einmal zurück. »Warte noch«, sagte er. Mike sah ihn fragend an. »Ja?«
»Da ist noch etwas, was ich nicht in ihrer Gegenwart tun konnte«, antwortete Ben. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte; ein untrügliches Zeichen dafür, daß er mehr als nurverärgertwar. »Wo ist dieser räudige einäugige Mäuseschreck?«Wen, bitte schön, meint er mit RÄUDIG?erklang Astaroths Stimme in Mikes Gedanken. Obwohl sie lautlos war, brachte er es trotzdem fertig, sie eindeutig drohend klingen zu lassen. Einen Moment später raschelte es zwischen den Palmwedeln hinter ihnen, und Astaroth tauchte mit gesträubtem Fell und ärgerlich peitschendem Schwanz auf. Sein Auge fixierte Ben zornig. »Da bist du ja«, sagte Ben. »Eine Frage - du kannst doch Gedanken lesen, oder?«
Du solltest deinen Freund darauf hinweisen, daß ich noch eine Menge mehr kann,sagte Astaroth mit Nachdruck.Ich könnte ihm zeigen, wie ich mein Auge verloren habe. Oder ihm demonstrieren, wie es ist, wenn man vier Wochen lang nicht mehr sitzen kann...»Was sagt er?« erkundigte sich Ben. »Ja«, antwortete Mike hastig. »Wenigstens... sinngemäß. «
»Dann frag ihn jetzt folgendes: Wenn er doch ständig in unseren Gedanken herumschnüffelt -und ich nehme an, nicht nur in unseren -, wieso zum Teufel hat er uns dann nicht gewarnt, als wir in den falschen Wagen eingestiegen sind?!«
Seinen Worten folgten einige Sekunden betroffenes Schweigen, in denen sich alle Blicke auf Astaroth richteten. Offensichtlich war Ben bisher der einzige hier, der sich diese Frage gestellt hatte. Obwohl sie auf der Hand lag.
»Da hat er recht«, sagte Trautman schließlich. »Also, Mike? Was sagt er?«
Mike blickte den Kater an, riß plötzlich überrascht die Augen auf und fragte: »Das ist dein Ernst?« »Was hat er gesagt?« fragte Trautman noch einmal. »Er... er hat gesagt, daß er es nicht konnte«, antwortete Mike.
»Wie bitte?« Trautman zog die Augenbrauen hoch und starrte den Kater an. Astaroth duckte sich unter seinem Blick und wirkte plötzlich so kleinlaut und niedergeschlagen wie der sprichwörtliche begossene Pudel. »Ich fürchte, es ist die Wahrheit«, sagte Mike. »Er konnte seine Gedanken nicht lesen weil er nicht gedachthat. «
Den Abend verbrachten sie zusammen mit Lady Grandersmith, die wieder einmal die spannendsten Geschichten zu erzählen hatte. Das einzige, worüber sienichtsprach, war dieSchwarze Bruderschaft.Mike versuchte auch nicht, das Gespräch darauf zu bringen. Keinem von ihnen war das Thema angenehm. Daß Yasal und Hasim praktisch ununterbrochen in ihrer Nähe waren, war schon schlimm genug. Spät am Nachmittag des folgenden Tages hatten sie sich wieder auf der Terrasse versammelt -Hasim hatte sie mit ein paar Gesten dorthin gebeten, und Mike hatte angenommen, daß er ihnen wieder eines seiner tatsächlich hervorragenden Festmahle vorsetzen würde. Der Tisch war jedoch nicht gedeckt,und als Lady Grandersmith als letzte erschien, erlebten sie eine Überraschung: statt in Kleid, Hut und Schleier, wie sie normalerweise aufzutreten pflegte, stand sie in Tropenanzug, Stiefeln und Helm vor ihnen.