alter Lumpen, der am Boden lag.
»Was ist das?« fragte Trautman. Er wollte sich vorbeugen, aber Lady Grandersmith fiel ihm mit einer fast erschrockenen Bewegung in den Arm. »Nicht anfassen!« sagte sie. »Es ist sehr empfindlich. Als ich das erste Mal hier war, hätte ich es fast zerstört. Seien Sie vorsichtig - bitte. «
Trautman trat gehorsam wieder einen halben Schritt zurück und ließ sich dann in die Hocke sinken, um den sonderbaren Fund zu begutachten. Die anderen versammelten sich um ihn herum und blickten ebenfalls neugierig auf das herab, was da im flackernden gelben Licht der Lampen vor ihnen lag. Trotzdem dauerte es noch eine geraume Weile, bis Mike wirklich begriff, was er da sah. Er fuhr erschrocken zusammen. »Das... das ist eine... eine Mumie!« »Igitt!« sagte Chris -und beugte sich aufgeregt noch weiter vor.
Trautman nickte. »Du hast Recht. Esisteine Mumie -oder das, was davon noch übrig ist. « Er sah zu Lady Grandersmith und ihren beiden schweigsamen Begleitern hoch. »Aber was bedeutet das? Sie haben ihre Toten doch nicht einfach irgendwo hingelegt und dann vergessen. Wo ist der Sarkophag und... « Er brach ab. Seine Augen wurden rund vor Erstaunen. »Aber das kann doch nicht sein!« flüsterte er. »Was kann nicht sein?« fragte Ben. Trautman ignorierte ihn. Er starrte weiter abwechselnd Lady Grandersmith und die halbzerfallene Mumie am Boden an.
»Wenn Sie dasselbe denken, was ich denke, glaube ich, daß wir beide recht haben könnten«, sagte Lady Grandersmith.
»Man hat den Sarkophag des Pharaos nie gefunden. Die
Grabkammer war leer. Aber ich glaube, ich weiß, warum. «
»Wie bitte?« fragte Mike ungläubig. »Sie... Sie meinen,das hier -«
»-ist die wirkliche Grabkammer, ja«, fiel ihm Lady Grandersmith ins Wort. »Es war damals ein beliebter Trick. Die Pharaonen hatten vor nichts so viel Angst wie vor Grabräubern. Deshalb legten sie falsche Spuren. Gänge, die im Nichts endeten oder auch in tödlichen Fallen, leere Grabkammern manchmal sogar kleinere Gräber, in denen sich tatsächlich einige Kostbarkeiten befanden, in der Hoffnung, daß die Räuber sich damit zufriedengeben und abziehen würden, ohne den wirklichen Schatz zu finden. Ich vermute, daß das, was man für die Grabkammer hält, eine solche falsche Spur ist. «
»Aber dann... dann wäre das hier ja... der Pharao!« murmelte Juan ungläubig.
»Und wo ist der Sarkophag? Und all die Schätze, die man Cheops angeblich mitgegeben hat?« fragte Chris. »Gestohlen«, sagte Lady Grandersmith traurig. »Alles hat am Ende nichts genutzt. Sie haben den Zugang doch gefunden und alles mitgenommen - bis hin zu dem goldenen Sarkophag, in dem er bestattet wurde. « »Und den Toten haben sie einfach so hingeworfen und liegengelassen?« fragte Serena erschüttert. »So sind Menschen nun oft einmal«, antwortete Lady Grandersmith.
»Denk mal an das, wasunsgestern beinahe passiert wäre«, fügte Ben düster hinzu. Serena sah sehr betroffen drein, aber sie sagte nichts mehr. »Das ist unglaublich!« flüsterte Trautman.
»Wenn das wahr ist... wissen Sie eigentlich, welch ungeheure Entdeckung Sie hier gemacht haben, Lady Grandersmith? Sie müssen es der Wissenschaft sagen. Das ist -«»Ichhabe diese Entdeckung nicht gemacht, Mister Trautman«, unterbrach ihn Lady Grandersmith. »Es waren Yasal und Hasim, die mich hergebracht haben. Ihr Volk hütet dieses Geheimnis seit Jahrhunderten -und ich muß Sie um Ihr Ehrenwort bitten, es auch weiter zu hüten. Niemand darf davon erfahren. « »Aber warum denn nicht?« fragte Ben. »Hier gibt es doch nichts mehr, was noch gestohlen oder zerstört werden könnte!«
»Du irrst dich«, sagte Lady Grandersmith. »Ich will es euch zeigen. Kommt. « Sie hob ihre Lampe und ging weiter. Mike hatte sich gründlich verschätzt, was die Größe der Höhle anging. Sie entfernten sich sicher hundert Meter oder mehr von der Mumie, ohne daß in der Dunkelheit vor ihnen eine Mauer aufgetaucht wäre, und ihre Schritte riefen noch immer dieses lang anhaltende, unheimliche Echo hervor. Dafür wurde es merklich kühler. Schließlich erreichten sie das gegenüberliegende Ende der Höhle. Allerdings sah es vollkommen anders aus, als Mike erwartet hatte. Es bestand nicht aus Fels oder einer Wand aus riesigen Quadern.
Vor ihnen lag ein riesiger, unterirdischer See. »Unglaublich!« flüsterte Trautman. Seine Stimme zitterte vor Erregung. »Das ist... phantastisch. « Er hob seine Lampe hoch über den Kopf, aber so weit das Licht auch reichte, es war kein Ende der schimmernden Wasserfläche zu erkennen. »Das muß ein unterirdischer Seitenarm des Nil sein!«
»Sie täuschen sich«, sagte Lady Grandersmith. »Das hier ist kein unterirdischer Fluß. «
»Aber was dann?« fragte Chris verwundert. »Das wirkliche Geheimnis der Cheopspyramide«, antwortete Lady Grandersmith, »das der Pharao für alle Zeiten mit in sein Grab genommen hat. Vielleicht der größte Schatz, den dieses Land besitzt. « »Schatz?« fragte Serena. »Aber es ist doch nurWasser. ‹‹Lady Grandersmith lächelte milde. »Was dunur Wassernennst, ist für die Menschen hier wertvoller als Gold«, sagte sie. »Was ihr hier seht, ist bloß ein kleiner Teil davon. Hier war nicht immer Wüste. Einst gab es in diesen Gebieten blühende Wälder und Wasser in Hülle und Fülle. Aber die Wälder verschwanden, und das Wasser zog sich zurück. Die Menschen glauben, es wäre ganz verschwunden, aber das stimmt nicht.Es ist noch da. Hier unten. Ein gewaltiger See, direkt unter Ägypten. «
Trautman runzelte die Stirn, ging in die Knie und tauchte die Hand ins Wasser. Er leckte vorsichtig an seinen Fingerspitzen und zog dann überrascht die Brauen zusammen. »Das ist Süßwasser«, sagte er. Lady Grandersmith nickte. »Ja, unvorstellbare Mengen davon. Es speist die Oasen und Brunnen, die dieses Land hat, seit Jahrtausenden, und es wird dies für weitere Jahrtausende zuverlässig tun. Das ist das wahre Geheimnis der Pharaonen. Der Grund ihres Reichtums. Sie wußten, wo das Wasser zu finden war. « »Und haben dieses Wissen für sich behalten?« fragte Ben. »Warum? Sie hätten aus dieser Wüste wieder ein Paradies machen können!«
»Sicher«, stimmte ihm Lady Grandersmith zu. »Aber für wie lange, Ben? Dieser See ist gewaltig, aber er ist nicht unerschöpflich. Die Menschen neigen leider dazu, nur an sich zu denken, nicht an die, die vielleicht nach ihnen kommen. Wüßte man um die Existenz dieses Sees, dann würden sie anfangen, ihn rücksichtslos auszubeuten. Sie würden Brunnen bohren; überall. Hunderte, Tausende, vielleicht Zehntausende. Und für vielleicht hundert Jahre, vielleicht auch nur zwanzig oder dreißig, würde die Wüste tatsächlich wieder zu einem blühenden Garten. Und dann? Irgendwann wäre das Wasser erschöpft, und das Land würde endgültig sterben. Nein, glaub mir -es ist schon gut so, wie es ist. Dieses Geheimnis darf niemals bekannt werden. « Für eine Weile wurde es sehr still, und dann sagte Trautman leise: »Das ist... phantastisch, Lady Grandersmith. Einfach unvorstellbar. Aber gestatten Sie mir eine Frage?« »Natürlich. «