»Erschrecke jetzt nicht«, sagte sie und berührte eine Taste auf dem winzigen Instrumentengürtel des Anzuges. French gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen, aber er fuhr trotzdem zusammen, als sich der durchsichtige Kunststoffhelm aus den Schultern seines Anzuges herausfaltete und zu einer Halbkugel aufblies. Offensichtlich hatte er einen solchen Anzug noch nie zuvor gesehen.
Sie überzeugte sich davon, daß auch Gurks und ihr eigener Anzug fest verschlossen waren, und warf einen letzten, sichernden Blick zur Tür zurück. Skudder signalisierte ihr mit einer Geste, sich zu beeilen, und feuerte gleichzeitig wieder in den Korridor hinaus. Die Luft draußen vor der Tür waberte vor Hitze. Skudder feuerte nicht wirklich auf die Angreifer, sondern legte einfach eine Barriere aus unüberwindlicher Glut zwischen sie und ihrem Versteck. Aber so dumm, nicht früher oder später mit gepanzerten Anzügen und schweren Waffen anzurücken, konnten selbst diese Moroni nicht sein.
Charity gab Stone, Gurk und French mit einer Kopfbewegung zu verstehen, von der rückwärtigen Wand des Raumes wegzutreten, hob ihre Waffe und visierte eine Stelle zwischen zwei der gebogenen Stahlträger an. Auf engste Bündelung und größtmögliche Energieabgabe eingestellt, fraß sich der grüne Lichtstrahl zischend und Funken sprühend in das Metall; schnell, aber nicht so schnell, wie sie gehofft hatte. Die Wand bestand aus zwei Zentimeter dickem Stahl. Selbst mit der schweren Laserwaffe würde sie eine Viertelstunde brauchen, um eine ausreichend große Öffnung hineinzubrennen. Und sie wußte nicht einmal, ob es Sinn hatte. Was geschah, wenn die Moroni die Orbit-Stadt in größerem Maße verändert hatten, als sie wußte?
Was, wenn hinter dieser gekrümmten Wand nicht der leere Raum, sondern nur ein weiterer Saal voller waffenstarrender Ameisenkrieger lag, die bereits auf sie warteten, und ...
Der Laserstrahl stieß plötzlich ins Leere. Ein helles Zischen und Pfeifen erklang, und etwas packte die Flammen und sog sie ins Freie.
Charity ließ den Laserstrahl ein wenig nach links wandern und begann die gewaltsam geschaffene Öffnung zu erweitern. Aus dem Zischen wurde ein heulendes Fauchen, und der Raum füllte sich mit Bewegung, als der Luftstrom an alle zu reißen begann, was nicht ausgesprochen schwer oder irgendwie befestigt war.
»Verdammt, was treibst du da?« rief Skudder von der Tür her.
Charity nahm für einen Moment den Finger vom Feuerknopf und blickte zur Tür. Der Luftstrom begann Rauch und Flammen vom Gang hereinzusaugen, so daß Skudder kaum noch etwas sehen konnte. Und plötzlich flackerte neben der Tür eine rote Warnlampe, und das schwere Panzerschott begann sich automatisch zu schließen.
Charity fuhr herum, war mit einem Satz neben Skudder und wuchtete eine der schweren Sauerstoffflaschen in die Türöffnung. Das Schott prallte mit einem Laut, als schlüge ein schwerer Schmiedehammer auf einen Amboß, dagegen, und zum Prasseln der Flammen und dem Zischen der immer schneller entweichenden Luft gesellte sich plötzlich das gequälte Wimmern eines überlasteten Elektromotors. Einen Augenblick später begann grauer Rauch aus einer Ventilationsöffnung neben der Tür zu quellen.
Skudder blickte sie verständnislos an. »Was tust du da?« wunderte er sich.
Charity gebot ihm mit einer Geste still zu sein und blickte konzentriert auf den Gang hinaus. Rauch und Flammen hatten sich zu einem Orkan ausgeweitet, der heulend und mit solcher Kraft durch die Tür hereinströmte, daß Charity Mühe hatte, ihm zu widerstehen. Sie wartete mit angehaltenem Atem, eine, zwei, drei Sekunden; und dann drang vom Gang her rasch hintereinander eine Folge dumpfer Schläge herein. Charity atmete hörbar auf. Offensichtlich funktionierte die Notfallautomatik noch genauso zuverlässig wie vor einem halben Jahrhundert.
Der Computer hatte sämtliche Türen geschlossen und den Bereich rings um den undichten Raum luftdicht abgeschottet. Der Strom aus Flammen, wirbelndem Rauch und Ruß hielt nur noch einen Moment an und versiegte dann. Der flackernde Feuerschein draußen wurde dunkler und erlosch.
Skudder zog anerkennend die Augenbrauen zusammen, als er begriff, was sie getan hatte. »Du hast mein Feuer ausgemacht«, sagte er übertrieben vorwurfsvoll. Dann richtete er sich auf und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus. »Alles klar«, fügte er grinsend hinzu. »Die Ameisen hast du auch ausgeknipst.«
Sein Lächeln erstarrte, als er den Blick auffing, den Charity ihm zuwarf. Charity war selbst ein wenig verwirrt - sie kannte Skudders sarkastische Art zur Genüge und wußte, daß sein Zynismus nur aufgesetzt und eigentlich nicht so gemeint war. Trotzdem spürte sie Verärgerung, fast Zorn.
Vielleicht hatte sie den Tod zu intensiv berührt, um noch Scherze mit ihm treiben zu können. Rasch drehte sie sich herum und visierte wieder die Wand an. Ihr Lasergewehr fuhr fort, grünes Feuer gegen den Stahl zu schleudern und ihn damit zu zerschmelzen, und nur einen Augenblick später gesellte sich Skudder zu ihr und erweiterte die Öffnung in der entgegengesetzten Richtung.
Trotzdem brauchten sie gute fünfzehn Minuten, um ein Loch in die Wand zu schneiden, das groß genug war, um bequem hindurchsteigen zu können. Immer wieder mußten sie ihre Arbeit unterbrechen, um ihre Waffen abkühlen zu lassen oder ihren gequälten Augen eine Pause zu gönnen. Der Lauf des Lasergewehres schien in Charitys Händen zu glühen, als sich die metergroße Stahlplatte endlich aus der Wand löste und lautlos nach draußen kippte. Ein Blick auf die Ladekontrolle zeigte ihr, daß die Batterien kaum noch zehn Prozent ihrer normalen Leistung hatten. Sehr lange würden sie mit diesen Gewehren nicht mehr schießen können.
Sie gönnte sich selbst den Luxus, einige Sekunden lang die Augen zu schließen und an gar nichts zu denken, dann drehte sie sich zu French herum und sagte: »Okay. Sie als erster.«
French starrte sie an. Sein bleiches Totenkopfgesicht wirkte unter dem durchsichtigen Plastikhelm klein und verloren. Er sagte etwas. Seine Lippen bewegten sich, aber Charity hörte nicht den mindesten Laut. Erst dann begriff sie, daß hier drinnen jetzt das Vakuum des Weltraums herrschte und sie gar nichts hören konnte.
Sie knipste den Helmfunk ein und bedeutete French, es ihr nachzutun. »Gehen Sie voraus«, sagte sie noch einmal. »Sie kennen den Weg.«
In Frenchs Augen flackerte Panik auf, und Charity fügte mit einem erzwungenen Optimismus in der Stimme, den sie selbst ganz und gar nicht verspürte, hinzu: »Keine Angst. Ihnen kann nichts passieren.«
»Das ... das ist die Tote Welt«, stammelte French. »Wir ... wir werden alle zur Erde gehen. Wir werden erfrieren oder verbrennen.«
»Ihnen wird nichts dergleichen geschehen«, versicherte ihm Charity. »Diese Anzüge sind sicher. Und wir passen auf Sie auf.« Sie lächelte aufmunternd. »Wir kommen von dort draußen, schon vergessen?«
Charity war nicht sicher, ob French ihr wirklich glaubte oder ob es immer noch die Ehrfurcht vor den Fremden war, die er für eine Art Götter oder zumindest Übermenschen zu halten schien, aber es wirkte. French beruhigte sich. Er war noch immer nervös, aber in seinem Blick war jetzt keine Panik mehr, und er machte einen zögernden Schritt auf das Loch in der Außenwand zu und hob die Hände. Langsam schob er Kopf und Oberkörper durch die gewaltsam geschaffene Öffnung ins Freie, und Charity hielt ihn im letzten Moment zurück, als ihr der nächste Fehler klar wurde, den sie im Begriff war, zu begehen.