Verwirrt wandte Charity sich um und sah die anderen an. Stone wirkte so beunruhigt und erschrocken wie sie selbst, aber sein Gesichtsausdruck verriet ihr auch, daß er ebensowenig wie sie wußte, was da vor ihnen lag. Skudders Blick spiegelte ein eher wissenschaftliches Interesse wider und allenfalls Erstaunen über die immense Größe der Hantel, während French noch verängstigter aussah als zuvor. Und dann fiel ihr Blick in Gurks Gesicht, und was sie in seinen Zügen las, das war schieres Entsetzen. Seine Augen waren starr und schienen aus den Höhlen zu quellen, und sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Er war so bleich geworden, daß seine Haut jetzt fast so weiß und durchsichtig erschien wie Frenchs.
Charity ging zu ihm. »Was hast du?« fragte sie.
Gurks Blick blieb weiter starr auf die riesige Hantel gerichtet, aber er hatte ihre Frage gehört, denn er deutete ein knappes, abgehacktes Kopfschütteln an. »Nichts«, behauptete er. »Es ist ... nichts.«
»Ja«, sagte Charity. »Hör mit dem Theater auf, Gurk. Du weißt, was das da ist, und du wirst es mir jetzt sagen.«
Sie sah, welche Mühe und Überwindung es Gurk kostete, seinen Blick von dem bizarren Riesengebilde zu lösen und sie anzusehen. »Warum eigentlich nicht?« flüsterte er mit belegter Stimme. »Schließlich sind wir hierhergekommen, um das Ding zu suchen.«
Charity sah überrascht auf und maß die rotierende Hantel mit einem neu aufkeimenden Gefühl von Furcht. »Die Bombe?« vergewisserte sie sich. »Du meinst - das ist die Sonnenbombe?«
»Ja und nein«, antwortete Gurk.
Charity runzelte ärgerlich die Stirn, beherrschte sich aber. »Aha«, sagte sie.
»Es ... es ist etwas viel Schlimmeres«, murmelte Gurk. »Dieses Ding wird ... wird diesen Planeten in seine Atome zerlegen, oder ...«
»Und?« unterbrach ihn Charity ruhig. »Wir sind schließlich hierhergekommen, um es zu entschärfen. Sollte es uns nicht gelingen, dann spielt es keine Rolle, ob es diese Station, den Planeten oder meinetwegen die halbe Milchstraße zerreißt. Jedenfalls nicht mehr für uns oder die Erde.«
»Du ... du verstehst nicht«, murmelte Gurk. Seine Stimme wurde schrill, drohte umzukippen. »Das ist eine Black-Hole-Bombe. Und sie ist bereits gezündet.«
»Wie bitte?« keuchte Charity entsetzt.
»Sie geht in ein paar Stunden hoch«, fuhr Gurk fort. »Und keine Macht des Universums kann das jetzt noch verhindern.«
5
Hartmann traf Net auf dem Gang, nachdem er Krämers ehemaliges Büro verlassen hatte und sich auf den Weg nach unten machen wollte. Offensichtlich hatte das Geheul der Alarmsirenen auch sie aus dem Schlaf gerissen, denn sie trug nur einen zerschlissenen Morgenmantel, und ihr Gesicht und ihre Bewegungen wirkten gleichermaßen übermüdet und benommen. Aber ihre Art zu reden war so knapp und präzise wie gewohnt. »Was ist los?«
Hartmann starrte sie einen Moment lang wortlos an. Zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewußt, wie sehr ihm Net gefiel. Vielleicht lag es daran, daß sie unvermittelt aus dem tiefsten Schlaf gerissen und noch nicht ganz wach war.
Unter der Oberfläche eines Mädchens, das gelernt hatte, niemanden und nichts an sich heranzulassen, gab es noch eine andere Net. Außerdem war sie sehr hübsch.
Der dünne Morgenmantel betonte mehr von ihrer Figur, als er verbarg, und strafte ihr normales Bemühen Lügen, sich äußerlich in etwas zu verwandeln, von dem man nie ganz sicher sein konnte, ob es Mann oder Frau war. Aber gleichzeitig wurde Hartmann sich auch wieder der Tatsache bewußt, daß er Nets Vater hätte sein können; wenn es nach seinem Geburtsdatum ging, sogar ihr Urgroßvater.
»Was ist los? Greifen sie an?« Energisch wiederholte Net ihre Frage.
Hartmann schüttelte eine Spur zu hastig den Kopf. »Nein«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Irgend etwas ist unten passiert.« Er wollte weitergehen, blieb dann aber doch noch einmal stehen und tat etwas, was ihn im ersten Moment selbst überraschte: Er machte eine einladende Handbewegung und sagte: »Komm mit.«
Auch Net wirkte überrascht. Sie waren so etwas wie Verbündete; aber irgendwie hatten sie sich bisher beide wie nach der unausgesprochenen Vereinbarung verhalten, ganz bestimmt keine Freunde zu sein. »So?« fragte sie schließlich mit einer Geste auf ihren Aufzug.
Hartmann zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?« Er lächelte matt, als er Nets neuerliche Verwirrung bemerkte, und ging weiter. Was immer dort unten geschehen war - über eines war er sich im klaren: Es war nichts, was sie mit Waffengewalt würden ändern können.
Net zögerte noch einen Moment, beeilte sich aber dann, ihm zu folgen.
Das Heulen der Alarmsirenen war verstummt, als sie aus dem Gebäude traten, aber in der riesigen Höhle herrschte trotzdem helle Aufregung. Hartmanns Befehl, die Männer vorsorglich in Alarmbereitschaft zu versetzen, wäre absolut nicht mehr nötig gewesen, denn gut die Hälfte seiner verbliebenen Truppe war ohnehin aus ihren Quartieren gekommen. Einige standen in kleinen Gruppen beisammen und debattierten heftig, andere liefen mit unruhigen, nervösen Schritten auf und ab oder standen einfach reglos da und blickten die Höhle des gewaltigen Felsendomes an, aber auf allen Gesichtern las Hartmann nur ein Gefühclass="underline" Angst. Da es ohnehin unmöglich gewesen wäre, hatte er erst gar nicht versucht, den Männern zu verheimlichen, was draußen vorging. Eines quälte ihn mehr als die gewaltige Moroni-Armee, die draußen aufmarschierte, nämlich die Frage: Wer würde der nächste sein? Wer würde als nächster aufstehen oder sich auch mitten in einem Gespräch oder einer anderen Tätigkeit plötzlich umdrehen und den Bunker verlassen, um sich den Jared anzuschließen, jenen unheimlichen Zwitterwesen, die wie Menschen aussahen, aber längst keine Menschen mehr waren?
Hartmann verscheuchte den Gedanken und ging schneller weiter, um zu den Aufzügen zu gelangen. Einige der Männer, an denen er vorüberkam, blickten ihn mit einer Mischung aus Furcht und Neugier an, und zwei oder drei machten auch Anstalten, ihn anzusprechen, taten es aber dann doch nicht, als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkten. Hartmann war sehr froh darüber. Er hätte nicht gewußt, was er ihnen sagen sollte.
Die Liftkabine kam. Hartmann schüttelte wortlos den Kopf, als zwei Soldaten sich ihnen anschließen wollten. Die Männer wirkten ein wenig überrascht, traten aber gehorsam einen Schritt zurück, so daß sich die Lifttüren schließen konnten und die Kabine summend in die Tiefe glitt.
Der Weg nach unten war ihm noch niemals so lang vorgekommen. Vielleicht, weil er noch niemals mit dem Bewußtsein hinuntergefahren war, daß es eine Rückkehr für ihn vielleicht nicht mehr geben würde.
Wieder verfluchte Hartmann die Tatsache, daß sie so erbärmlich schlecht ausgerüstet waren. Dieser Bunker war vielleicht das modernste Bauwerk seiner Art, das es auf der ganzen Welt gegeben hatte, und er war dazu konzipiert und erbaut worden, seinen Bewohnern auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus ein Überleben unter einer strahlenverseuchten, unbewohnbaren Oberfläche zu garantieren. Aber annähernd sechzig Jahre hatten ihren Preis gefordert, und der letzte Angriff der Jared hatte nicht mehr sehr viel übriggelassen. Sie hatten einfach keine Ersatzteile, um die zerstörten Video- und Sprechfunkverbindungen zu reparieren.
Der Aufzug hielt mit einem Ruck an. Hartmann zog wider besseres Wissen seine Pistole und gab Net ein Zeichen, zurückzubleiben. Mit klopfendem Herzen verließ er die Kabine, sah sich rasch nach rechts und links um und atmete erleichtert auf. Sie waren allein. Von irgendwoher glaubte er Stimmen und Geräusche zu hören, aber viel zu leise, als daß er auch nur die Richtung ausmachen konnte, aus der es kam. In Gedanken versuchte er rasch, sich den Plan der unterirdischen Bunkeranlage vor Augen zu führen. Er war bisher sehr selten in diesem Teil der Festung gewesen. Und wozu auch? Daß ausgerechnet er eines Tages das Kommando über diesen Bunker übernehmen würde, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.