Charity war enttäuscht. »Beschreiben Sie ihn«, verlangte sie. »Wie sieht dieser Hort aus? Wie groß ist er? Gehört er zur Station, oder befindet er sich außerhalb?«
Frenchs Blick machte ihr klar, daß er nicht einmal die Frage verstand. »Ich ... weiß es nicht«, stammelte er. »Er liegt hinter der Toten Zone, und ...«
Charity unterbrach ihn. »Die Tote Zone?« Plötzlich begriff sie, daß es ihr Fehler gewesen war. Sie hatte ganz automatisch bisher angenommen, daß French mit der Toten Zone den leeren Raum gemeint hatte.
»Es ist ... wie hier«, murmelte French verstört. »Genau wie hier, aber ganz anders.«
»Aha«, seufzte Charity.
»Es gibt keine Luft dort«, erklärte French. »Und es ist kalt. Alles ist zerstört.«
»Zerstört?« hakte Charity nach.
French nickte heftig. Für einen Moment konnte Charity nicht verstehen, was er sagte. »... haben die Spinnen versucht, sie zu reparieren. Aber wir haben sofort alles wieder zerstört. Pearl sagte, daß wir das tun sollten. Er hatte Angst, daß sie in den Hort kommen, wenn die Tote Zone nicht mehr da ist.«
Charity überlegte angestrengt. Frenchs Worte ließen eigentlich nur einen Schluß zu, nämlich, daß das Versteck seiner Leute in einem Teil der Raumstation lag, der beschädigt worden war. So schwer beschädigt, daß die Moroni es offensichtlich nicht für wert befunden hatten, allzuviel Energie auf seine Reparatur zu verschwenden. Aber sie konnte keinerlei Beschädigungen entdecken, so sehr sie sich auch bemühte. Sie ...
Und dann wußte sie es. Plötzlich aufgeregt fragte sie: »Ihr Hort, French - wie sieht der aus? Ein Raum mit einer halbrunden Decke, etwa vierzig Schritte lang und zehn breit? Und davor ein kurzer Gang, der zu zwei weiteren, kleineren Räumen führt?«
French blickte sie erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, antwortete Charity und richtete sich auf. Suchend sah sie sich um. Es war sehr schwer, sich zu orientieren. Die Moroni hatten so viel an der Station verändert und angebaut, daß sie fast nicht wiederzuerkennen war. Trotzdem - jetzt, wo sie einmal wußte, wonach sie zu suchen hatte, kehrten ihre Erinnerungen Stück für Stück zurück. Und nach einer Weile begriff sie, daß sie an der falschen Stelle gesucht hatten. Die Docks hatten sich auf der der Erde zugewandten Seite der Orbit-Stadt befunden.
Sie wollte sich wieder zu den anderen umwenden, um ihnen mit Gesten zu verstehen zu geben, daß sie den Weg wieder zurückgehen mußten, als eine Bewegung auf der anderen Seite des riesigen Runds ihre Aufmerksamkeit erweckte. Sie sah genauer hin. Im ersten Moment war es nur ein schwaches Aufblitzen, aber es wiederholte sich und nahm an Stärke zu, und plötzlich wurde ihr mit furchtbarer Deutlichkeit klar, daß es noch etwas gab, das sie übersehen oder vergessen hatte.
Aus der Flotte scheibenförmiger Raumfahrzeuge auf der anderen Seite der Station hatten sich drei Gleiter gelöst, die so genau auf sie zukamen, als daß sie sich auch nur eine Sekunde lang hätte einreden können, es wäre Zufall.
Auch die anderen hatten die Gleiter bemerkt. Stone stand erstarrt vor Schrecken da, während French den riesigen Flugscheiben mit nichts anderem als Neugier entgegenblickte. Offensichtlich wußte er gar nicht, worum es sich dabei handelte. Skudder hatte ein wenig die Beine gespreizt, um festen Stand zu haben, und hob seine Waffe.
Charity schüttelte den Kopf. Sie alle kannten diese Gleiter; sie waren viel zu schwer gepanzert, um sie mit einer einfachen Laserwaffe zu beschädigen.
Ihre Gedanken rasten. Die Gleiter schienen sich fast gemächlich zu nähern, aber sie wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Sie würden in wenigen Augenblicken hier sein. Und es gab absolut nichts, was sie tun konnten.
Sie fuhr zu den anderen herum, löste mit einer raschen Bewegung die Sicherheitsleine von ihrem Gürtel und gab ihnen zu verstehen, dasselbe zu tun. »Verteilt euch!« schrie sie. »Vielleicht erwischen sie uns nicht alle! Wenn wir getrennt werden, versucht, euch zu Frenchs Leuten durchzuschlagen.«
So schnell, wie sie es eben noch wagen konnte, damit ihre Magnetsohlen nicht den Kontakt zum Boden verloren, entfernte sie sich von Gurk, Skudder und Stone, während sie French einfach mit sich zerrte. Im Laufen blickte sie sich um und sah, daß auch Skudder sich in Bewegung gesetzt hatte, während Gurk wieder einmal mit seinem viel zu großen Anzug kämpfte und Stone noch immer wie versteinert dastand. Die Gleiter waren ein gutes Stück näher gekommen; eine der riesigen Scheiben schwebte lautlos auf Gurk und Daniel Stone herab, während eine zweite zu Skudder und die dritte zu ihr und Frenchs Verfolgung ansetzte. Charity war klar, wie lächerlich und naiv ihr Fluchtversuch war - Großer Gott, dachte sie, wer hatte jemals versucht, vor einem Raumschiff davonzulaufen? -, aber es war das einzige, was sie tun konnte.
Die Flugscheibe glitt über sie und French hinweg, vollführte eine enge Drehung und begann, sich dann auf die Station herabzusenken. Charity schlug einen Haken nach rechts. Das Schiff vollzog die Bewegung nach, setzte kaum zwanzig Meter vor ihr auf, und in seiner Unterseite erschien ein dreieckiger Spalt, aus dem gelbes Licht und unmittelbar darauf fast ein Dutzend in durchsichtige Vakuumanzüge gekleidete Ameisenkrieger strömten. Sie waren ausnahmslos bewaffnet, aber sie verzichteten zumindest im Moment noch darauf, sofort das Feuer auf Charity und French zu eröffnen, sondern schwärmten schnell und mit fast militärischer Präzision zu einer langgezogenen Kette aus, die French und ihr vollends den Fluchtweg versperrten. Charity fluchte, fuhr abermals mitten in der Bewegung herum und sah, daß die beiden anderen Gleiter ebenfalls gelandet waren. Die Ameisen schienen zumindest eine gewisse Erfahrung mit dem freien Raum zu haben, denn sie verhielten sich sehr viel geschickter als sie und die anderen. Die Enden der drei weit auseinandergezogenen Ketten aus Kriegern bewegten sich rasch aufeinander zu und berührten sich schließlich, so daß sie einen unregelmäßigen, aber vollkommen geschlossenen Kreis um die Flüchtlinge bildeten.
Charity blieb stehen und sah sich um. Wie sie erwartet hatte, begann sich der Kreis fast unmittelbar nach seiner Vollendung zusammenzuziehen; die Ameisen marschierten los, nicht sehr schnell, aber aus allen Richtungen gleichzeitig, um ihre Opfer in der Mitte zwischen sich zusammenzutreiben. Sie war immer noch etwas überrascht, daß die Moroni noch nicht das Feuer eröffnet hatten, aber die einzige Erklärung, die es dafür gab, beruhigte sie überhaupt nicht. Die Insektenkrieger schienen den Befehl zu haben, sie lebendig zu fangen.
Schritt für Schritt wichen sie vor den näherkommenden Moroni zurück, bis sie wieder auf Skudder, Gurk und Stone trafen.
»Und jetzt?« fragte der Indianer.
Charity zuckte mit den Achseln. »Ich sehe nur zwei Möglichkeiten«, antwortete sie. »Wir können aufgeben oder unser Leben so teuer wie möglich verkaufen und noch ein paar von ihnen mitnehmen.« Sie hob rasch die Hand, als Skudder etwas sagen wollte. »Ich weiß, für welche Möglichkeit du bist. Ich bin nicht deiner Meinung.«
»Hast du eine Ahnung, was sie mit uns machen werden?« fragte Skudder düster.
Charity verneinte. »Aber vielleicht ergibt sich ja später die Möglichkeit zur Flucht. Wenn wir tot sind, haben wir diese Chance ganz bestimmt nicht mehr.«
Skudder lachte humorlos. »Das glaubst du doch nicht wirklich. Wunder wiederholen sich selten. Lieber gehe ich drauf, ehe ich mich diesen ... Tieren ausliefere.«
»Unsinn!« sagte Charity. »Wir ...«
Aber Skudder hörte ihr gar nicht mehr zu. Mit einem Ruck fuhr er herum, richtete seine Waffe auf die näherrückende Reihe der Moroni und drückte ab. Ein fingerdicker, giftgrüner Laserstrahl traf eines der Insektengeschöpfe und tötete es auf der Stelle. Aber sofort nahm eine andere Ameise deren Platz ein und schloß die Lücke wieder. Skudder erschoß auch sie, und wieder wurde die Lücke sofort geschlossen. Im allerersten Moment sah es so aus, als würden die Moroni auch diesmal nicht auf den Angriff reagieren. Doch dann nahmen fünf oder sechs der Ameisengeschöpfe gleichzeitig ihre Waffen, und Skudder prallte mit einem Schrei zurück und ließ um ein Haar sein Gewehr fallen, als ein halbes Dutzend dünner, grellweißer Lichtblitze so dicht an ihm vorbeizischte, daß einige davon dunkle Brandspuren auf seinem Anzug hinterließen. Aber keiner davon traf ihn. Die Salve war nur eine Warnung.