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Das erste, was sie erblickte, war Gurks Gesicht, und was sie sah, das erschreckte sie zutiefst. Der Zwerg blutete aus Nase, Ohren und Augen, und da, wo seine Haut nicht rot von seinem eigenen Blut war, hatte sie eine schmutzig-graue Färbung angenommen. Sein Blick war verschleiert; er schien alle Mühe zu haben, sich trotz der praktisch nicht vorhandenen Schwerkraft aufrechtzuhalten. Hastig kroch Charity zu ihm hinüber und berührte seinen Helm.

»Was ist los mit dir?« fragte sie.

Gurk stöhnte. Sein Blick klärte sich für einen kurzen Moment, verschleierte sich dann wieder, und als er antworten wollte, brachte er im allerersten Moment nur ein unverständliches Keuchen zustande.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Charity besorgt und kam sich im gleichen Moment ebenso hilflos wie dumm vor. Natürlich war nicht alles in Ordnung mit dem Zwerg.

Trotzdem zwang sich Gurk zu einem angedeuteten Kopfschütteln, stöhnte erneut und sah sie aus Augen an, die trüb vor Schmerz waren. »Schwerkraft ...« stöhnte er. »Ich ... ertrage sie nicht so gut wie ... ihr.«

»Was für eine Schwerkraft?« fragte Charity.

Gurk stöhnte wieder. Er kippte nach hinten, fing sich im letzten Moment und richtete sich wankend wieder auf. »Gravitationswellen«, murmelte er.

»Die Kugeln. Sie ... bestehen aus ... Neutronium.«

Charity riß erstaunt die Augen auf, blickte automatisch die gigantischen, rasenden Kugeln über sich noch einmal an und wandte sich dann wieder dem Zwerg zu. »Neutronium?« wiederholte sie ungläubig. »Du ... du willst behaupten, sie könnten ... Neutronium bearbeiten?«

Trotz seines miserablen Zustandes versuchte Gurk zu lachen, brachte aber nur ein Krächzen zustande. »Sie können noch ganz andere Dinge«, murmelte er. Er atmete tief und schwer ein. »Sie können uns zum Beispiel den Arsch aufreißen, wenn wir noch lange hier herumhocken und uns gegenseitig versichern, wie gut es uns doch schon wieder geht.«

Charity starrte ihn eine Sekunde lang verblüfft an, dann stahl sich gegen ihren Willen ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich glaube, dir geht es schon wieder besser«, sagte sie.

Gurk knurrte etwas Unverständliches, und Charity richtete sich vorsichtig auf und beugte sich zu French herab. Er schien unverletzt zu sein, zitterte aber am ganzen Körper und leistete im ersten Moment Widerstand, als sie ihn auf die Füße ziehen wollte. Sein Blick hing wie gebannt an der blauen Riesenkugel der Erde, die zwei Drittel des Himmels über ihnen beherrschte. Charity fragte sich, was in diesem Moment in ihm vorgehen mochte. Dann drehte sie sich einmal im Kreis, um sich umzusehen.

Jetzt, als sie wußte, wonach sie suchen wollte, entdeckte sie es fast sofort.

Wie es aussah, hatten sie Glück gehabt. Sie befanden sich nur hundert Schritte von einem klaffenden Loch in der Außenhülle der Orbit-Stadt entfernt. Ein Gewirr aus verborgenen Stahlträgern und zerschmolzenen, zerfetzten Panzerplatten verwandelten seine Ränder in eine fast unüberwindliche Barriere. Dahinter war das hintere Drittel eines gewaltigen Etwas zu sehen, das beinahe die Form einer ins Gigantische vergrößerten, plumpen Pfeilspitze hatte.

Obwohl das Bild damals tagelang über alle Bildschirme der Erde geflimmert war und Charity es in allen Einzelheiten kannte, ließ der Anblick sie schaudern. Die NASA hatte niemals herausgefunden, was damals wirklich geschehen war, denn der Unfall hatte sich nur wenige Tage vor der Invasion der Moroni ereignet, aber Tatsache war, daß er beinahe zum Untergang der ganzen Orbit-Stadt geführt hätte.

Das Europäische Space Shuttle, das eigentlich auf der anderen Seite der Station hatte andocken sollen, war plötzlich ins Trudeln gekommen und hatte sich wie ein Geschoß in den äußeren Ring der Orbit-Stadt gebohrt.

Wie durch ein Wunder hatte es keine Toten gegeben, weder in der Station noch an Bord des Space Shutlles, aber jeder Versuch, das sechzig Meter lange Raumschiff aus dem Gewirr von Trümmern zu befreien, war gescheitert.

»Was ... was ist das?« stammelte French. Sein Blick glitt verwirrt über das gewaltige Schiff und das riesige Leck in der Station.

Charity deutete nacheinander auf den Bereich aus zerfetzten Panzerplatten und Trägern, dann auf das auf dem Kopf stehende Space Shuttle. »Wenn ich mich nicht sehr täusche«, sagte sie, »dann ist das die Tote Zone, French. Und das«, sie hob abermals die Hand und wies auf das Raumschiff, »ist Ihr Hort.«

6

Obwohl nicht einmal eine halbe Stunde vergangen sein konnte, seit er die Zentrale verlassen hatte, hatte sich das Bild auf den Monitoren auf dramatische Art und Weise verändert. Die Nacht war einem künstlichen Tag gewichen, der aus grellen Laserblitzen, dem Widerschein der Explosionen und Brände, den roten Flammenspuren der Gleitertriebwerke und wirbelnder, einzeln nicht identifizierender Bewegungen bestand. Die so trügerisch ruhige Nacht war einem irrsinnigen Kaleidoskop aus peinigender Helligkeit und absoluter Finsternis gewichen, was das menschliche Auge wie die Belichtungsautomatik der Kameras im gleichen Maße uberforderte. Einige Monitore waren ausgefallen, andere zeigten nur sinnlose Schlieren und die vage Andeutung von Bewegung, und über die eingeblendeten Datenfenster huschten Zahlenkolonnen in so schneller Folge, daß auch sie zu unlesbaren Schemen wurden. Die ganze Welt draußen schien in Bewegung geraten zu sein. Die Außenbezirke der Stadt brannten. Der Himmel loderte in einem dunklen, blutfarbenen Rot, und der Fluß spiegelte den Feuerschein wider, als hätte er sich in einen Strom aus Lava verwandelt. Immer wieder flammten am Himmel und am Erdboden grelle Feuerbälle auf, deren Licht von blaustichigem Weiß zu Orange und Rot wechselte, ehe es zu einem brodelnden Ball aus höllischer Glut und Rauch wurde. Das nukleare Inferno, das diese Stadt schon einmal verschlungen hatte, tobte erneut, und obwohl es diesmal keine Menschen waren, die der atomaren Hölle zum Opfer fielen, schmerzte Hartmann der Anblick genausosehr wie beim ersten Mal.

Er wollte etwas sagen, aber es gelang ihm erst beim zweiten Versuch, einen Ton hervorzubringen. »Ich werde meine Männer nicht in diese Hölle hinausschicken«, stieß er schließlich hervor. Er kam sich hilflos und beinahe lächerlich bei diesen Worten vor. Er war eindeutig nicht in der Situation, irgend etwas zu verlangen; nicht einmal zu verwehren. Trotzdem war er erleichtert, es gesagt zu haben. Einen Moment lang wartete er vergebens auf eine Antwort, dann riß er sich fast gewaltsam vom Anblick der Schlacht auf den Bildschirmen los und sah die Gestalt hinter seinem Schreibtisch an.

Als hätte er auf diese Reaktion gewartet, deutete Kyle ein Kopfschütteln an und lächelte. »Das verlangt auch niemand von Ihnen, Herr General«, sagte er. »Ganz davon abgesehen wäre es auch sinnlos. Der Ausgang des Kampfes steht bereits fest. Wir werden gewinnen.«

Hartmann lachte schrill auf. »Sie sind verrückt, Kyle!« Mit einer abgehackten Geste deutete er auf die Bildschirme. »Ich habe die letzten drei Tage nichts anderes getan, als ihrem Aufmarsch zuzusehen. Sie sind Ihnen hundert zu eins überlegen, ist Ihnen das klar? Ganz davon abgesehen, daß sie dort draußen genug Waffen zusammengetragen haben, um diesen ganzen Kontinent in Schutt und Asche zu legen.«

»Sie verstehen nicht«, sagte Kyle. Er lächelte noch immer, aber sein Lächeln war jetzt irgendwie verzeihend. »Wir werden gewinnen, weil wir gar nicht verlieren können. Ihre Zahl spielt keine Rolle. Im Gegenteil. Je mehr sie sind, desto besser ist es für uns. Es war dumm von ihnen, uns überhaupt anzugreifen. Ich verstehe nicht so recht, warum sie es tun.«