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»Lüge!« brüllte Hartmann. Er sprang auf und ballte nun tatsächlich die Fäuste, wie um sich auf Kyle zu stürzen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. »Das ... das ist nicht wahr!« behauptete er. »Auch ich war im Tiefschlaf. Ich habe neun von zehn Jahren darin verbracht. Ich müßte es wissen.«

»Und Sie wissen es auch, Hartmann«, sagte Kyle. »Denken Sie nach. Ihr Bewußtsein und die Erinnerung verdrängt alles, um nicht daran zu zerbrechen, aber sie ist da. Neun Jahre Dunkelheit, Hartmann. Neun Jahre Einsamkeit und Leere. Schreien, ohne schreien zu können. Erinnern Sie sich - falls Sie sich das wirklich antun wollen. Oder glauben Sie mir.«

Hartmann begann immer heftiger zu zittern. Etwas in ihm regte sich. Da war ein Gefühl in seinen Gedanken, die Erinnerung an eine Erinnerung, die er tief, unendlich tief im Grunde seiner Seele vergraben hatte. Ein Schmerz, der so entsetzlich war, daß man ihn mit Worten nicht beschreiben konnte, ein Entsetzen, das alles Vorstellbare überstieg. Einsamkeit. Leere. Dunkelheit und Schwärze, so unendlich tiefe Dunkelheit und so unendlich große, leere Schwärze ...

»Aber wieso ... wieso bin ich ... da nicht verrückt geworden?« stammelte er. »Ich und die ... die anderen, die geweckt wurden.«

»Manche sind es«, sagte Kyle. »Und vielleicht sind zehn Jahre nicht genug. Ihr könnt soviel ertragen, und doch seid ihr so verwundbar. Es ist die Wahrheit, Hartmann, und Sie wissen es. Die Geister dieser Männer waren gefangen in Leere und Schwärze, und so gingen sie hinaus in die Leere und suchten nach etwas, das ihren Schmerz teilte. Und sie fanden es. Verstehen Sie noch immer nicht? Nicht die Jared haben diese Männer geholt. Sie haben Jared erst erschaffen. Es sind die gepeinigten Seelen all dieser Männer, Hartmann, die mit dem Bewußtsein der jungen Königin verschmolzen und etwas Neues, Wunderbares erschufen. Sie glauben, man hätte ihnen etwas genommen, aber auch das ist nicht wahr. Sie haben etwas gewonnen, Hartmann. Etwas unsagbar Kostbares.«

»Ja«, flüsterte Hartmann. »Und sie haben nur eine Kleinigkeit dafür bezahlt, nicht wahr? Nur ihre Menschlichkeit, sonst nichts.«

»Ich wollte, Sie könnten es fühlen, Hartmann«, sagte Kyle. »Ich wollte, Sie könnten am eigenen Leib erleben, was es heißt, Teil eines einzigen, großen Geistes zu sein. Sie glauben, Ihnen würde etwas genommen. Aber das stimmt nicht.«

Hartmann starrte ihn an. Er zitterte am ganzen Leib. Er war nicht sicher, ob er verstand, was Kyle sagte, und im Grunde wollte er es auch nicht. Denn hätte er zugegeben, was er auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins längst wußte, nämlich, daß er sehr wohl begriff, was der Megamann ihm zu erklären versuchte, dann hätte er auch gleichzeitig zugeben müssen, daß Kyle die Wahrheit sagte.

»Was ... was wollen Sie?« fragte er. Selbst diese wenigen Worte hervorzustoßen kostete fast seine ganze Kraft.

Wieder blickte Kyle für einen Moment auf die Monitore, und wieder hatte Hartmann das sichere Gefühl, daß er etwas suchte. »Ich brauche Ihre Hilfe, Hartmann«, sagte er schließlich. »Die Schwarze Festung darf nicht zerstört werden. Es ist sehr wichtig für uns, sie unbeschädigt in die Hand zu bekommen. Aber dazu ist etwas vonnöten, das nur Sie tun können.«

Einen Moment lang blickte Hartmann den Megakrieger fassungslos an, dann starrte er mit aufgerissenem Mund und Augen auf die Monitorwand, die aus verschiedenen Ansichten den Angriff der Moroni-Legionen auf die Stadt zeigte. Die Flotte der Gleiter näherte sich dem Fluß, wobei sie jedes Gebäude, jede Straße, jeden Fußbreit Boden mit den Höllengluten ihrer Laserkanonen überschütteten. Und hinter ihnen wogte die schwarze Flut der Moronikrieger heran. Plötzlich hatte Hartmann Mühe, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. »Ich ... will nicht unhöflich sein, Kyle«, sagte er stockend. »Aber im Moment sieht es für mich so aus, als würden Ihre Freunde Ihnen gewaltig in den Hintern treten.«

Kyle blickte ihn unverwandt an und lächelte. »Werden Sie uns helfen?«

»Sie ... Sie sind völlig verrückt«, stammelte Hartmann. »Selbst wenn ich es könnte - dieses Ding muß zerstört werden. Ganz egal, was es kostet.«

»Ich wußte, daß Sie das sagen würden«, antwortete Kyle ruhig. »Und - glauben Sie mir, ich bin froh, daß Sie es gesagt haben. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen von uns keine Gefahr droht. Wir können Moron schlagen, Hartmann. Helfen Sie uns, die Schwarze Festung in unsere Hand zu bekommen, und ich verspreche Ihnen, daß dieser Planet wieder Ihnen gehören wird, Ihnen allein und niemandem sonst.«

Hartmann starrte Kyle unverwandt an. In dessen Augen lag keine Heimtücke. Aber er hatte gesehen, was hinter der Maske des Megamannes lauerte. Und trotzdem ...

Beinahe hilflos wandte er sich an Net, die noch immer an der Tür stand und bisher kein Wort gesagt hatte. »Ich ... glaube ihm«, flüsterte die Wasteländerin.

Wieder suchte sein Blick die Bildschirme. Der Angriff hatte eher noch an Heftigkeit zugenommen. Was von der ehemals so stolzen Stadt den ersten Angriff aus dem All überstanden hatte, das schmolz jetzt im konzentrierten Beschuß der Laser. »Wir sind nur noch eine Handvoll, Kyle«, murmelte er. »Sie wissen doch selbst am besten, daß ...«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Kyle. »Und ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie es alle überleben werden. Aber ich verspreche Ihnen, daß dieser Planet frei sein wird. Moron wird nie wieder seine Hand nach anderen Welten ausstrecken, wenn es uns gelingt, den Transmitter am Nordpol zu erobern.«

Eine Weile schwieg Hartmann und blickte das Inferno auf den Bildschirmen an, aber er sah weder die zuckenden Laserblitze noch die Flammen oder die sterbende Stadt. Für Augenblicke sah er sie, wie sie einmal gewesen war, groß, stolz und voller Menschen, die ihre Probleme und Sorgen gehabt hatten, aber frei gewesen waren. Er war nicht naiv genug, sich im Ernst einzureden, es könnte jemals wieder so werden. Die Erde hatte Wunden davongetragen, die nie wieder völlig heilen würden. Aber vielleicht hatten sie die Chance, noch einmal anzufangen.

»Und ... Captain Laird?« fragte er.

Diesmal zögerte Kyle mit einer Antwort. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, Hartmann«, sagte er dann. »Wir werden tun, was in unserer Macht steht, um sie zu beschützen. Aber ich will Sie nicht belügen.«

Sekunden vergingen, reihten sich zu einer Minute, in der ein tiefes, ungutes Schweigen von der Kommandozentrale des Eifel-Bunkers Besitz ergriff. Dann sagte Hartmann, so leise, daß er nicht einmal sicher war, ob Kyle die Worte überhaupt verstand: »Was verlangen Sie von uns?«

7

Ohne Frenchs Hilfe hätten sie das letzte Stück des Weges nicht geschafft. Das Shuttle hatte seine Position in den letzten fünfzig Jahren nicht verändert. Charity hatte wie alle anderen damals Bilder der Katastrophe gesehen, aber es waren eben nur Bilder gewesen, die einen Abklatsch der Wirklichkeit zeigten. Was auf den Videoaufnahmen wie ein in die Außenhülle der Orbit-Stadt hineingestanztes Loch ausgesehen hatte, erwies sich in Wirklichkeit als ein zerfetzter Krater mit Rändern wie Dolche, der von einem Gewirr scharfkantiger Trümmer gefüllt war. Es schien nur eine einzige Stelle zu geben, an der ein Hinunterklettern trotz der Schwerelosigkeit nicht zu einem lebensgefährlichen Abenteuer wurde, aber als Charity diese Stelle ansteuern wollte, schüttelte French hastig den Kopf und machte eine erschrockene Geste. Charity bemerkte erst jetzt, daß ein Stück der ursprünglichen Wand dort herausgeschnitten und durch etwas ersetzt worden war, das wie eine riesige Irisblende aussah. Einen Moment später erinnerte sie sich, eine ähnliche Konstruktion schon einmal gesehen zu haben - in einer Station der Moroni. Sie versuchte nicht, French umzustimmen, sondern bedeutete den anderen, sich für das letzte Stück des Weges seiner Führung anzuvertrauen.