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Hartmanns Blick wanderte zu einem anderen Bildschirm und suchte die Gleiterflotte. Die Schiffe schwebten reglos über der brennenden Stadt. Sie bildeten jetzt einen gewaltigen, weit auseinandergezogenen Kreis, in dessen Zentrum sich einer der wenigen Bereiche der Stadt befand, der noch nicht in hellen Flammen stand. Sie machten keine Anstalten, die fliehende Ameisenarmee zu verfolgen.

Aber das war auch nicht nötig. Hartmann sah wieder auf den Schirm, dem Kyles Aufmerksamkeit galt, und beobachtete etwas, das ihn im ersten Moment einfach nur verwirrte. Die Moroni-Legionen befanden sich immer noch in panischer Flucht, aber irgend etwas schien ihren Rückzug zu bremsen. Trotz der starken Vergrößerung konnte er keine Einzelheiten erkennen, aber er bemerkte zumindest, daß sich die Bewegung der riesigen Heeresmasse stetig verlangsamte.

Er stand auf, trat neben Kyle und versuchte, das Bild noch weiter zu vergrößern, erreichte damit aber nur, daß es unscharf wurde.

»Was geht dort vor?« fragte er.

»Etwas, das Sie hätten wissen müssen«, antwortete Kyle. Er deutete ein Kopfschütteln an. »Sie müssen sehr verzweifelt sein, wenn Sie es trotzdem versucht haben.«

Hartmann verstand kein Wort. Er beugte sich so weit vor, daß sein Gesicht fast den Bildschirm berührte und seine Augen zu tränen begannen. Die einzelnen Moroni waren auf dem Bild tatsächlich nur ameisengroß zu erkennen. Irgend etwas an ihren Bewegungen war ... nicht richtig. Sie rannten, wie nur Lebewesen rennen können, die um ihr Leben liefen, aber immer mehr und mehr von ihnen wurden plötzlich langsamer und blieben stehen. Dann sah Hartmann, daß an immer mehr und mehr Stellen plötzlich wütende Handgemenge unter den Moroni ausbrachen. Hier und da blitzte ein Laserschuß auf, aber die meisten Ameisen fielen einfach mit Armen und Beißzangen übereinander her und versuchten, ihre Gegner niederzuringen. Wie ein sich rasend schnell ausbreitendes Steppenfeuer griffen die Kämpfe immer schneller um sich, aber sie dauerten niemals sehr lange. Die Ameisen rangen sekundenlang miteinander, dann schienen sie plötzlich jegliches Interesse an ihrem Gegner zu verlieren und lösten sich wieder von ihm. Was um alles in der Welt ging dort vor!

»Ich glaube«, sagte Hartmann mit mühsam beherrschter Stimmen. »Sie sollten mir vielleicht das eine oder andere erklären, Kyle.«

»Das werde ich«, antwortete Kyle. »Aber nicht jetzt, Hartmann. Uns bleibt nicht mehr sehr viel Zeit. Kommen Sie.« Plötzlich lächelte er. »Wir müssen ein Sternenreich erobern.«

*

»Also ist alles wahr, was unsere Eltern erzählt haben«, sagte Stark.

Es war sehr still geworden in der langgestreckten, halbrunden Kuppel aus Stahl, in der er und seine Leute lebten, während Charity mit ruhiger Stimme und überlegten Worten erzählt hatte. Die Blicke des guten Dutzends Männer, Frauen und Kinder hatten gebannt an ihren Lippen gehangen und jede einzelne Wort aufgesogen. Jetzt breitete sich ein fast lähmendes Schweigen im Inneren des Space Shuttles aus. Charity unterbrach dieses Schweigen nicht. Sie hatte sehr lange geredet und dann geduldig jedes einzelne von Starks manchmal sinnlos scheinenden Fragen beantwortet. Der Führer war mit jeder Antwort, die er bekam, schweigsamer geworden; im gleichen Maße hatte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von Mißtrauen zu Bestürzung, dann zu vorsichtiger Erleichterung und schließlich zu Ehrfurcht und Staunen verwandelt. Obwohl Gurk und nach einer Weile auch Skudder sie immer ungeduldiger angesehen hatten, hatte Charity Frenchs Brüdern und Schwestern ihre ganze Geschichte erzählt. Daß sie zu jener Handvoll Astronauten gehört hatte, die damals, am Ende des 20. Jahrhunderts, das Sternenschiff von Moron entdeckt und ein Stückweit auf seinem Flug zur Erde begleitet hatte, daß sie zu jenen wenigen Überlebenden gehörte, die noch aus jener alten, von Morons Legionen hinweggefegten Welt stammte und daß sie mit Skudder und einem kleinen Haufen ebenso verzweifelter wie entschlossener Menschen schließlich den Widerstand gegen die Invasoren aus dem All aufgenommen hatte. Einiges hatte sie weggelassen. Sie hatte zwar erzählt, daß sie ein halbes Jahrhundert im künstlichen Winterschlaf verbracht hatte, aber sie hatte wohlweislich nicht gesagt, daß sie von Stone dazu gezwungen worden war. Und sie war auch sehr froh, daß keiner der Männer und Frauen eine Frage nach Gurks ungewöhnlichem Aussehen gestellt hatte. Gleichgültig, was sie sagten oder taten - für diese Leute waren sie Götter, und sie wollte nicht, daß sie im Moment schon begriffen, daß auch die Götter ebenso uneins und zerstritten waren wie vielleicht auch sie manchmal.

»Es ist also alles wahr«, sagte Stark noch einmal. Er sah Charity an, aber sein Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen, und in seiner Stimme war ein bitterer Klang, den sie im allerersten Moment nicht verstand. »Die Geschichten, die mir mein Vater erzählt hat. Es gibt eine Welt, die ... größer ist als unsere hier. Ohne Spinnen und ohne die Raubzüge.«

»Ja«, antwortete Charity leise. »Es gibt die Erde. Meine Freunde und ich kommen von dort. Und wir sind weder Götter noch Geister und irgendwelche Überwesen. Wir sind Menschen wie Sie.«

Stark sah erst sie, dann French an, und Charity fügte hastig hinzu: »Was French erzählt hat, ist die Wahrheit. Trotzdem sind wir nicht unsterblich. Nicht einmal unverwundbar. Es war ...« Sie suchte einen Moment nach Worten.

»Ein Phänomen. Etwas, das wir selbst nicht richtig verstehen.«

Der Ausdruck auf Starks Gesicht wurde eher noch hilfloser, und Charity begriff, wie wenig er mit diesen Worten anfangen konnte. Aber wie sollte sie ihm etwas erklären, das sie selbst nicht genau verstand?

Niedergeschlagen und von einem Gefühl der Hilflosigkeit ergriffen, löste sie ihren Blick vom Gesicht des alten, grauhaarigen Mannes und sah sich um. Sie begriff erst jetzt, was Frenchs Hort wirklich war. Was sie für einen Teil der Orbit-Stadt gehalten hatte, auf den sich der Machtbereich der Moroni aus irgendeinem Grund nicht erstreckte, das war kein Teil der Orbit-Stadt, sondern die vierzig Meter lange Ladebucht des Space Shuttles. Eine große Tunnelröhre, in der mehr als ein Dutzend Menschen seit zwei Generationen lebten, Kinder zeugten und starben und in der jeder Tag ein neuer Kampf ums nackte Überleben war. Sie versuchte sich vorzustellen, wie das Leben dieser Handvoll Männer und Frauen ausgesehen hatte, aber ihre Phantasie kapitulierte vor dieser Aufgabe. Es mußte die reinste Hölle sein. Ein ganzes Leben eingesperrt in einem vierzig Meter langen Sarg aus graugewordenem Eisen, eine Welt ohne Morgen und Abend, ohne Jahreszeiten, ein Leben, in dem sich ein Tag an den anderen reihte, ohne irgendeine Möglichkeit, das Verstreichen der Zeit zu registrieren; lediglich die Raubzüge in die Orbit-Stadt boten eine Unterbrechung der täglichen Monotonie. Raubzüge, von denen nur zu viele nicht mehr zurückkehrten.

Es erschien ihr für einen Augenblick geradezu unvorstellbar, daß Menschen unter diesen Bedingungen überhaupt überleben konnten. Charity war plötzlich sicher, hätte sie mehr Zeit gehabt, sich mit der Lebensweise von Frenchs Brüdern und Schwestern zu beschäftigen, hätte sie rasch festgestellt, daß die hier entstandene Kultur kaum weniger fremdartig war als die der Moroni oder irgendeines anderen Volkes, das auf einem x-beliebigen Planeten der Galaxis leben mochte. Und es waren solche Momente, die immer wieder begreifen ließen, was die Invasoren von den Sternen den Menschen wirklich angetan hatten. Was zählte, das waren nicht die Millionen und Abermillionen, die gestorben oder vielleicht nie geboren worden waren. Ungleich schlimmer war das, was sie den Überlebenden angetan hatten. Ein Leben, das sich kaum mehr von dem wilder Tiere unterschied, die vom Tag ihrer Geburt an auf der Flucht waren und es blieben, bis sie starben. Sie dachte an Net und die Wasteländer, an Skudders ehemalige Bande, die Sharks, sie dachte an die sich frei wähnenden und doch gefangenen Bewohner von Paris und an die Jared. Und sie begriff, selbst wenn ihr Kampf Erfolg haben sollte, würde es nie wieder so werden, wie es gewesen war. Selbst wenn es ihnen gelang, die Bombe zu entschärfen, deren Zeitzünder kaum hundert Meter von ihnen entfernt tickte, selbst wenn es ihnen gelang, die Invasoren von Moron dorthin zurückzujagen, wo sie hergekommen waren - die Welt, wie sie sie kannte, war auf immer verloren.