French kletterte weiter und hielt plötzlich inne, und Charity, die so sehr in ihre eigenen Gedanken versunken war, daß sie kaum noch auf ihre Umgebung achtete, bemerkte es zu spät und verpaßte ihm einen kräftigen Tritt. French schrie auf, ließ instinktiv seinen Halt los - und kippte mit einem überraschten Keuchen und mit wirbelnden Armen nach hinten. Hilflos stürzte er die restlichen drei, vier Meter in die Tiefe, schlug schwer auf den Boden auf und blieb liegen; benommen, verletzt oder vielleicht sogar tot. Charity blickte einen Moment lang ebenso fassungslos wie erschrocken zu ihm herab, dann kletterte sie hastig weiter. Die Gravitation mußte tatsächlich höher sein als gewohnt - denn sie verlor prompt das Gleichgewicht und fiel neben French auf die Knie. Besorgt beugte sie sich über ihn, tastete einen Moment lang hilflos mit den Händen über die Gummihaut seines Anzuges und wollte dann den Helm lösen, um ihm ins Gesicht zu blicken.
»Nicht!« flüsterte French erschrocken. »Vorsicht! Eine Spinne!«
Vielleicht war es die Überraschung, seine Stimme zu hören, vielleicht auch die Tatsache, daß die Bewohner der Orbit-Stadt die Moroni mit einem anderen Wort bezeichneten als die Menschen auf der Erde, aber sie begriff eine volle Sekunde lang nicht, was French überhaupt meinte.
Und als sie es begriff, war es zu spät.
Sie hob erschrocken den Kopf - und sah sich einem Moroni gegenüber, der kaum drei Meter entfernt dastand und auf sie zielte. Ganz instinktiv versuchte sie, ihre Waffe von der Schulter zu reißen, aber natürlich gelang es ihr nicht. Die Laserpistole in der unteren linken Hand des Moroni stieß einen grellen Lichtblitz aus, und Charity wurde gegen die Wand geschleudert. Der kleine Generator im Körperschild ihres Anzuges heulte protestierend auf, als das Gerät versuchte, die Energie zu absorbieren. Blaues Feuer lief in dünnen, gezackten Linien über den Anzug, und ein Gefühl furchtbarer Hitze durchflutete sie. Charity sank stöhnend in sich zusammen, fiel auf den Rücken und zog vor Schmerz Knie und Ellbogen an den Leib.
Immer noch liefen knisternde blaue Funken über ihren Anzug. Der Laserblitz hatte das Material nicht durchschlagen, aber der elektrostatische Schock, den Charitys Nervensystem davongetragen hatte, war kaum weniger schlimm. Für Sekunden kämpfte sie mit einer Bewußtlosigkeit, die ihre Gedanken zu verschlingen drohte. Sie sah, wie sich die Ameise mit eckigen, sehr vorsichtigen Schritten näherte, dann direkt über ihr stehenblieb und sich vorbeugte. Die riesigen Facettenaugen glotzten mißtrauisch und starr auf sie herab, und die Strahlenpistole zielte plötzlich genau auf ihr Gesicht. Sie wollte etwas tun, sich aufbäumen, sich wehren, aber sie konnte es nicht. Ihr Nervensystem schien in Flammen zu stehen. Sie war gelähmt und hilflos.
Aber der Moroni schoß nicht. Er stand einfach da und zielte weiter auf sie, und plötzlich richtete er sich auf und drehte sich um.
Eine Sekunde später stürzte eine hünenhafte, in schwarzes Leder gekleidete Gestalt von der Decke herab, riß den Moroni von den Füßen und schlug ein paarmal mit dem Gewehrkolben zu. Der Moroni hatte keine Chance. Skudder gab ihm keine Zeit, seine überlegenen Körperkräfte auszuspielen, sondern zertrümmerte seinen Chitinpanzer mit mehreren gezielten Schlägen. Dann überzeugte er sich davon, daß die Insektenkreatur tatsächlich tot war, ehe er mit zwei raschen Schritten zu Charity zurückkehrte und neben ihr niedersank.
»Bist du okay?« fragte er.
Zitternd versuchte Charity sich aufzurichten und nickte schwach. »Ich ... glaube schon«, murmelte sie.
Rasch, aber sehr gründlich tastete Skudder ihre Schulter und ihren rechten Arm ab und überzeugte sich davon, daß sie tatsächlich nicht verletzt war. Charity biß die Zähne zusammen, denn seine Berührung, so sacht sie war, bereitete ihr heftige Schmerzen; sie senkte den Blick und fuhr ein zweites Mal erschrocken zusammen, als sie ihren Gürtel sah. Der kleine Schildgenerator hatte sich verformt. Seine Plastikteile waren geschmolzen, dünner, grauer Rauch kräuselte sich aus dem Inneren des Gerätes. Voller plötzlichem Schrecken begriff sie, daß sie jetzt keinen Schutz mehr hatte. Der nächste Schuß, der sie traf, würde sie töten.
»Gott sei Dank«, murmelte Skudder. »Für einen Moment habe ich gedacht, alles wäre aus. Du hast dagelegen wie tot.«
Charity blickte ihn verwirrt an. Irgend etwas an diesem Satz war wichtig, aber sie wußte nicht, was es sein konnte.
Diesmal war sie nicht zu stolz, um Skudders Hilfe beim Aufstehen in Anspruch zu nehmen. Auch die beiden anderen waren mittlerweile heruntergekommen. French humpelte ein wenig, als sie weitergingen, schien aber ansonsten ebenso wie Charity mit dem Schrecken davongekommen zu sein.
Charity spürte ein eisiges Frösteln, als sie auf den toten Moroni herabblickte. Skudders Kolbenhiebe hatten seinen Schädel zertrümmert, und der Moroni lag wie eine tote, viel zu große Spinne da, verkrümmt, die sechs Gliedmaßen an den Körper gezogen ... Ganz genau so, wie auch Charity dagelegen hatte, als sie gegen die Bewußtlosigkeit ankämpfte. Und auch das war wichtig. Es gehörte zu dem, was Skudder gesagt hatte. Sie wußte plötzlich, daß sie das Geheimnis enträtseln würde, wenn sie nur einen Moment Zeit und Gelegenheit fand, in aller Ruhe darüber nachzudenken.
»Und wohin jetzt?« fragte Gurk.
Charity zuckte nur mit den Schultern, während French reglos stehenblieb und dann mit einer Geste, die ein wenig unentschlossen wirkte, nach links deutete. »Ich glaube, dort entlang.«
»Geht es dort zu deinen Leuten?« erkundigte sich Skudder.
French machte wieder die verneinende Moroni-Geste. »Ich bin zum Luftholen hergekommen«, erinnerte er. »Ich glaube, dort vorn ist eine Kammer mit Luftpatronen. Der Hort wird sterben, wenn er keinen frischen Sauerstoff bekommt.«
Charity und Skudder tauschten einen raschen Blick. French hatte im Laufe der letzten beiden Stunden mehrmals vom Hort und seinen Leuten gesprochen, aber auf eine Art, die sie sehr wenig von dem verstehen ließ, was er sagte. Immerhin war ihnen klargeworden, daß die überlebenden Menschen an Bord der Raumstation offensichtlich Schwierigkeiten mit ihrer Luftversorgung hatten.
Sie gingen weiter. Charity überließ es diesmal Skudder, French zu folgen, und fiel absichtlich einige Schritte zurück, bis Stone zu ihr aufgeschlossen hatte. Er bewegte sich langsam, schlurfend und mit hängenden Schultern. Offensichtlich litt auch er unter der leicht erhöhten Schwerkraft. Sein Blick flackerte, als er sie ansah und begriff, daß sie mit ihm reden wollte.
»Was ist das hier, Stone?« fragte sie.
»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Stone unfreundlich. »Sie sind hier ...«
»Sie wissen so gut wie ich«, unterbrach ihn Charity scharf, »was ich meine. Das hier ist die Orbit-Stadt. Aber ich will wissen, was sie daraus gemacht haben.«
»Ich weiß es nicht«, beharrte Stone. Er wich ihrem Blick aus. »Ich war niemals hier. Weder vor noch nach dem Angriff.«
»Nein«, antwortete Charity sarkastisch. »Woher sollten Sie auch. Sie waren nur ihr Gouverneur. Der Statthalter ...«
»Eines ganzen Planeten, ja«, unterbrach sie nun Stone. »Glauben Sie, ich wüßte alles? Und glauben Sie, sie hätten mir alles gesagt?« Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich weiß nicht genau, wie Sie es sich vorstellen, Captain Laird - aber ich war auch nicht viel mehr als ein Sklave.«
»O ja«, bemerkte Skudder spöttisch, ohne sich herumzudrehen. »Das hat man gemerkt.«
Stone bedachte ihn mit einem bösen Blick, ohne aber etwas darauf zu erwidern. »Sie haben irgend etwas hier getan, das stimmt. Aber ich weiß nicht, was. Sie haben es mir nicht gesagt, und ich habe nicht danach gefragt. Im Grunde hat es mich auch nicht interessiert.«
»Du warst wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt, deine Sklavenbrüder zu jagen und umzubringen«, sagte Skudder.
»Verdammt, was soll das?« ereiferte sich Stone. »Ich stehe auf eurer Seite. Was muß ich noch tun, um das zu beweisen?«