»Fang schon mal damit an, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen«, schlug Skudder völlig ernsthaft vor. »Das würde mich überzeugen.«
»Hör auf, Skudder«, bat Charity müde. »Ich glaube ihm. Egal, was er vorher getan hat - er steht jetzt auf unserer Seite. Er ist hier, oder?«
»Ja«, sagte Skudder grimmig. »Nachdem er keine andere Wahl mehr hatte. Ich mag Verräter nicht. Auch nicht solche, die meine Feinde verraten.«
Charity beendete die Diskussion, indem sie Stone zurückhielt und noch langsamer ging, so daß French und Skudder nun fünf oder sechs Meter vor ihnen gingen. »Was ist mit der Bombe?« fragte sie. »Ist sie hier?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Stone. »Glauben Sie mir, das ist die Wahrheit. Ich weiß es wirklich nicht. Offiziell weiß ich nicht einmal, daß es sie gibt.«
Charity seufzte. »Wir müssen uns einmal eingehend unterhalten, Stone«, sagte sie. »Und zwar sehr bald.«
2
Hartmann starrte die vierfache Reihe von hintereinander geschalteten Bildschirmen vor sich an und versuchte vergeblich, sich in Erinnerung zu rufen, daß diese Monitore nichts anderes als Monitore waren und keinerlei Schuld an dem trugen, was sie zeigten. Es nutzte nichts - seit einer Stunde verspürte er das immer heftiger werdende Bedürfnis, den schweren Glasaschenbecher vom Schreibtisch vor sich zu nehmen und in einen der Bildschirme zu werfen. Vielleicht sollte er es tun, überlegte er. Nicht, daß es irgend etwas ändern würde. Aber es würde ihn erleichtern.
Hauptmann Hartmann war stets stolz auf seine Selbstbeherrschung gewesen. Aber dies war einer von den Tagen, an denen er sie zu verfluchen begann.
Ja, vielleicht sollte er es tun.
Er streckte die Hand nach dem Aschenbecher aus, nahm ihn sogar für einen Moment hoch und wog ihn in den Fingern, stellte ihn dann aber wieder zurück auf den Tisch.
Ersatzteile waren knapp.
Die Hälfte dieser verfluchten Monitore funktionierte ohnehin nicht mehr.
Er hörte das Geräusch der Tür, schwang abrupt mit seinem Drehsessel herum und entspannte sich wieder, als er erkannte, daß es Net war, die hereinkam.
Es war absurd genug: Noch vor wenigen Wochen hätte er ihr ungefragtes Eindringen in das Allerheiligste der Basis als Affront empfunden, und von allen, die Captain Charity Laird begleiteten, war die junge Wasteländerin wohl diejenige, die Hartmann und seinen Männern mit dem großen Mißtrauen begegnete. Trotzdem war er jetzt beinahe erleichtert, daß sie es war und nicht einer seiner Männer. In den letzten Tagen pflegten seine Soldaten nur noch Hiobsbotschaften zu bringen.
Einen Moment lang sah er sie an und fragte sich wieder einmal vergeblich, was hinter der Stirn des dunkelhaarigen Mädchens vorgehen mochte. Sie stand auf ihrer Seite, und über ihre Loyalität gab es keinen Zweifel, aber die Art, wie sie sich manchmal umsah, und der verwirrte, fast erschrockene Ausdruck, der in all den Wochen nicht aus ihrem Blick gewichen war, beunruhigten Hartmann. Sie hatte es niemals ausgesprochen, nicht einmal angedeutet, aber Hartmann wußte, wie wenig wohl sie sich hier fühlte. Sie mochte diese neue und zugleich alte Welt nicht. Sie hatte Angst vor all diesen Apparaten, den technischen Gerätschaften und Waffen, dem Lärm und der Hektik, der untergegangenen Zeit, die dieser Bunker symbolisierte. Dabei hätte es genau umgekehrt sein müssen. Er hatte sehr wenig mit Net, aber doch genug mit den anderen über sie geredet, um zu wissen, wie das Leben eines Wasteländers aussah: Net war in einer Welt aufgewachsen, die nur aus Furcht und Entbehrungen, aus Kämpfen ums nackte Überleben und aus Angst vor dem nächsten Tag bestand. Der Eifelbunker hätte ihr wie das Paradies vorkommen müssen, mit seinen atombombensicheren Wänden, seiner Nahrung im Überfluß, der Sicherheit, die er bot. Aber jeder Blick in ihre Augen bestätigte Hartmann, daß eher das Gegenteil der Fall war.
»Haben Sie Nachrichten von Charity?« fragte Net.
Hartmann deutete ein Kopf schütteln an. Die Frage überraschte ihn nicht. Net hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden ein paarmal gestellt. Captain Laird und die anderen waren überfällig. Das letzte, was Hartmann von der Gruppe gehört hatte, war ein verstümmeltes SOS-Signal gewesen, das abbrach, ehe es auch nur zu Ende gesendet wurde. Er hatte nicht verhindern können, daß die Wasteländerin von diesem Signal erfuhr, aber er hatte ihr verschwiegen, was es wirklich bedeutete.
Es war keine direkte Nachricht von Captain Laird oder einem der anderen gewesen, sondern ein automatisches Signal, das der Bordcomputer des Flugzeuges ausstrahlte, wenn die Maschine zerstört wurde. Was nicht unbedingt hieß, versuchte er sich selbst in Gedanken zu beruhigen, daß ihnen wirklich etwas zugestoßen war. Aber es bedeutete ganz bestimmt auch nicht, daß alles nach Plan verlief.
Er schüttelte noch einmal den Kopf und schwang sich abermals mit seinem Stuhl herum. Sein Blick richtete sich wieder auf das ungleichmäßige Muster von intakten und blinden Monitoren an der gegenüberliegenden Wand. »Was zum Teufel tun die da?« murmelte er.
Da es nicht wirklich eine Frage gewesen war, sagte Net auch nichts, trat aber nach einigen Sekunden des Zögerns um den Schreibtisch herum und blieb neben ihm stehen. Ihr Blick irrte über das Durcheinander von Bildern. Hartmann hatte die letzten Wochen dazu benutzt, ein ganzes System von Überwachungskameras und Mini-Satelliten aufzubauen, das es ihm ermöglichte, nicht nur die nähere Umgebung des Bunkers, sondern auch Teile der Stadt zu beobachten. Und irgend etwas ging dort draußen vor. Seit Tagen hatte sich eine hektische, nervöse Aktivität unter den Moroni ausgebreitet. Gleiter kamen und gingen, Material wurde gebracht und weggeschafft, Ameisen kamen und gingen, und immer öfter tauchten neben den bekannten, flachen Diskusfahrzeugen auch die viel größeren Kampfschiffe der Moroni am Himmel auf. Hartmann bedauerte es sehr, nicht auch einen Blick in die Stadt und auf das mutierte Nest in den Ruinen des Doms werfen zu können. Aber alle ferngelenkten Sonden, die er losgeschickt hatte, waren zerstört worden, ehe das Gebäude auch nur in Sichtweite kam, und Hartmann wagte es nicht, einen oder gar mehrere seiner Männer loszuschicken. Er wußte nur zu gut, daß sie nicht zurückkehren würden.
Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu und berührte eine Taste des Sprechgerätes. Es dauerte einen Moment, bis sein Ruf beantwortet wurde. Wie alles hier war auch die Wachstube unten in den Tief Schlafkammern katastrophal unterbesetzt. Die Arbeit von fünf Männern mußte von einem getan werden. Hartmann konnte sich wahrscheinlich glücklich schätzen, daß er überhaupt eine Antwort bekam.
»Leutnant Steinberger hier, Hibernationskomplex«, drang eine verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher.
»Hartmann«, antwortete Hartmann knapp. »Irgendeine Änderung?«
»Nein«, antwortete Steinberger, und Hartmann atmete innerlich schon auf. »Nichts. In den letzten vier Stunden waren es neun.«
Mit einem sehr tiefen Stirnrunzeln, aber ohne noch ein Wort zu sagen, unterbrach Hartmann die Verbindung. Im Grunde wußte er es längst, aber etwas in ihm weigerte sich immer noch, sich einzugestehen, daß er wohl alle seine Männer verlieren würde; alle, die in den Schlaftanks lagen und darauf warteten, aufzuwachen, und fast alle, die wach waren. In den ersten Tagen nach ihrem ebenso erbitterten wie kurzen und sinnlosen Widerstand gegen die Jared waren mehr als zwei Drittel seiner Männer einfach gegangen. Hartmann wußte, daß sie jetzt in Köln waren, keine wirklichen Menschen mehr, sondern zu etwas geworden, was er nicht verstand, was ihn aber zutiefst erschreckte. Captain Laird hatte versucht, es ihm zu erklären. Sie hatte etwas von Telepathie erzählt, vom Verschmelzen verschiedener Bewußtseine zu einer dritten, anderen Art, aber er hatte nichts von alledem verstanden. Vielleicht hätte er es, hätte er es gewollt.