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Sie wollte irgendeine Belanglosigkeit sagen, um ihn zu beruhigen, aber genau in diesem Moment ging ein sanfter, aber dennoch spürbarer Ruck durch den Boden unter ihren Füßen; und einen Moment später rollte ein dumpfes Donnern heran.

»Was war das?« fragte Skudder erschrocken. Charity blieb stehen und hob lauschend den Kopf. Das Donnergrollen verklang allmählich, und auch der Boden zitterte nicht mehr. Aber sie hatte solche Geräusche einfach zu oft gehört, um nicht zu wissen, was sie bedeuteten.

»Eine Explosion«, murmelte sie.

»Sieht so aus, als hätten unsere Freunde Schwierigkeiten«, sagte Gurk.

Skudder tauschte einen fragenden Blick mit Charity. »Leßter?«

»Ein Mann gegen die Besatzung dieser ganzen Raumstation?« Charity schüttelte den Kopf. Wenn das, was sie alle annahmen, zutraf, dann war Leßter mehr als ein Mann. Wahrscheinlich war es so gut wie unmöglich, ihn umzubringen. Und trotzdem ... Er stand Tausenden von Gegnern gegenüber.

»Ich schätze, er hält sie ganz schön auf Trab«, sagte Skudder grinsend. »Zumindest wäre das eine Erklärung dafür, daß wir noch am Leben sind.«

Wieder kam Charity nicht dazu, irgend etwas zu antworten, denn eine zweite, weitaus heftigere Explosion erschütterte die Station. Und einen Augenblick später drang ein hohes, dünnes Pfeifen an ihre Ohren, daß sie alle schmerzhaft das Gesicht verzogen. Offensichtlich eine Alarmsirene der Moroni.

Sie wandte sich mit einer auffordernden Geste an French. »Weiter«, sagte sie. »Solange sie abgelenkt sind, haben wir eine gute Chance.«

Wieder bedauerte sie, das Gesicht hinter der Maske nicht erkennen zu können, denn auch jetzt zögerte French einen Moment zu lange, um seine Unsicherheit zu verbergen. Dann fuhr er mit einer entschieden zu hastigen Bewegung herum und humpelte vor ihr den Gang hinunter.

Das Heulen der Alarmsirene und das Zittern des Bodens hielten an, und immer wieder drang auch ein dumpfes Grollen an ihre Ohren. Charity war jetzt nicht mehr sicher, daß es wirklich eine Explosion gewesen war, die sie hörten. Nicht zum ersten Mal, seit sie sich Frenchs Führung durch das bizarre Labyrinth anvertraut hatten, verspürte sie ein eisiges Frösteln - und die Frage, was die Invasoren von Moron mit der gewaltigen Weltraumstadt getan hatten. Die Station hatte sich auf eine unheimliche Art verändert. Die künstliche Welt sechsunddreißigtausend Kilometer über der Erdoberfläche, durch die sie sich bewegten, schien aus Teilen nicht nur zweier, sondern eines halben Dutzends unterschiedlicher Kulturen zu bestehen. Die Orbit-Stadt war ihr im ersten Augenblick nahezu unverändert vorgekommen, denn ihre neuen Besitzer hatten nichts an ihrer grundlegenden Konstruktion geändert - die Gänge und Räume waren noch genauso aufgeteilt, wie sie es vor der Invasion gewesen waren, Aufzüge und Luftschleusen befanden sich an ihrem vertrauten Platz, selbst die kleinen Hinweisschildchen neben den Türen, die ortsunkundige Besucher der Orbit-Stadt davor hatten bewahren sollen, sich in ihren endlosen Gängen zu verirren, waren noch vorhanden. Aber diese Täuschung hielt nicht lange stand. Die scheinbar so vertrauten Gänge starrten vor fremdartigen Maschinen, deren bloßer Anblick Charity schwindeln ließ, sinnverwirrende Erzeugnisse einer Technik, die die halbe Milchstraße unterworfen und geplündert hatte und deren Funktionsweise sie nicht einmal zu erraten imstande war. Daneben entdeckte sie Apparaturen, die so primitiv wirkten, als hätte ein Kind wahllos irgendwelche Ersatzteile genommen und zusammengebaut, und dann wieder Dinge, die sinnvoll und einfach zu durchschauen, aber im Grunde recht primitiv waren. Und manche Geräte wirkten wie eine völlig irrsinnige Kombination aus mechanischen und lebendigen Komponenten.

Die Wände einiger Gänge waren von etwas bedeckt, das Charity an das riesige Netz der Königin im Kölner Dom erinnerte - ein Gespinst grauer, klebriger Fäden, in dem sie hier und da große, pulsierende Klumpen gewahrte, die sich zu bewegen schienen. Charity war aufgefallen, daß French sich große Mühe gab, diese Klumpen niemals zu berühren.

»Dort vorn.« French wies mit einer Handbewegung auf eine Tür, die Charity erst beim zweiten Hinsehen überhaupt bemerkte, denn sie lag fast völlig unter einem grauen Spinnwebnetz verborgen. »Ich glaube, in dieser Kammer finden wir Luft. Aber ich bin nicht sicher. Als ich das letzte Mal hier war, war es ... anders.«

»Das glaube ich dir gerne«, sagte Gurk. »Sonst wärst du wahrscheinlich kaum hier.«

Charity sah ihn irritiert an, und Gurk fuhr mit einer Geste zum Ende des Korridors hin beinahe im Plauderton fort. »Die da hätten wahrscheinlich etwas dagegen gehabt.«

Charity, Skudder und auch French fuhren in einer einzigen Bewegung herum und erblickten drei oder vier sechsgliedrige Gestalten, die vor einer Sekunde hinter der nächsten Biegung aufgetaucht waren. Offensichtlich waren die Moroni genauso überrascht wie Charity und die anderen; aber dank Gurks dummer Bemerkung hatten sie eine oder zwei Sekunden mehr Zeit gehabt, ihre Verblüffung zu überwinden - mit dem Ergebnis, daß sie sofort das Feuer eröffneten.

Charity fand gerade noch Zeit, sich zur Seite zu werfen und Gurk dabei mit sich zu reißen, dann zerriß ein wahres Gewitter bleistiftdünner Lichtblitze die Luft zwischen ihnen. Skudder warf sich mit einem Fluch zur anderen Seite, prallte ungeschickt gegen die Wand und stürzte. Wahrscheinlich rettete dieser ungewollte Sturz ihm das Leben, denn den Bruchteil einer Sekunde später glühte das Metall dort, wo er gestanden hatte, hellrot unter den Einschlägen von vier oder fünf Laserblitzen auf, während sich Stone mit erstaunlicher Kaltblütigkeit auf ein Knie herabsinken ließ, seine Waffe hob und das Feuer erwiderte. Er verfehlte sein Ziel genauso wie die Moroni, aber die unerwartete Gegenwehr bremste den Ansturm der Vierarmigen für einen entscheidenden Augenblick.

Wahrscheinlich aber war es wieder French, dessen Eingreifen die endgültige Entscheidung brachte. Die Ameisen machten nicht so rücksichtslos von ihren Waffen Gebrauch, wie sie es gekonnt hätten, vermutlich, um ihren vermeintlichen Kameraden nicht zu gefährden.

French nutzte solche Skrupel hemmungslos aus. Noch während Charity verzweifelt über den Boden rollte, um den zuckenden Laserblitzen auszuweichen, hob er seine Harpunenwaffe, zielte in aller Seelenruhe und drückte ab. Einer der Moroni taumelte zurück, ließ seine Waffe fallen und griff mit allen vier Händen gleichzeitig nach dem langen Stahlpfeil, der aus seinem Brustpanzer ragte, ehe er zusammenbrach. Die anderen erstarrten für eine halbe Sekunde. Völlig verstört blickten sie French an, der bereits mit fliegenden Fingern einen weiteren Pfeil in seine Waffe legte. So kurz diese Atempause war, sie reichte: Charity warf sich mit einer blitzartigen Bewegung herum, riß ihr Gewehr von der Schulter und drückte ab. Auch Skudder eröffnete das Feuer. Keinem von ihnen blieb Zeit, wirklich zu zielen, aber ihre Waffen erwiesen sich als leistungsfähiger als die Laser der Moroni. Die hellgrünen Laserblitze explodierten in der Wand hinter den Ameisen und ließen sie in greller Weißglut auflodern. Die Hitze war so intensiv, daß selbst Charity einen kochendheißen Gluthauch spürte und French mit einem Schmerzensschrei zurücktaumelte. Von der Gummihaut seines Anzuges kräuselte sich grauer Rauch. Die Chitinpanzer der Moroni flammten auf und brannten lichterloh.

Charity hob schützend den linken Arm vor das Gesicht und blinzelte. Das entgegengesetzte Ende des Korridors hatte sich in eine Hölle aus weißer Glut und zuckenden Schatten verwandelt. Geschmolzenes Metall lief zischend zu Boden, Flammen leckten nach dem grauen Spinnengewebe, das Wände und Decke überzog. Voller plötzlichem Schrecken begriff Charity, daß sowohl Skudders als auch ihre eigene Waffe auf maximale Energieabgabe geschaltet waren. Eine Nachlässigkeit, die in einer solchen Umgebung tödlich sein konnte. Sie befanden sich in einer Raumstation, und hinter manchen der Wände, an denen sie vorbeigingen, war nichts mehr als die luftleere Weite des Alls.