Etwas bewegte sich unter ihr, und dann hörte sie eine halberstickte Stimme, die etwas rief, das sie nicht verstand. Erschrocken richtete sie sich auf und bemerkte, daß sie Gurk halb unter sich begraben hatte.
»Verdammt, willst du mich umbringen?« keuchte Gurk.
»Eigentlich sollte ich dich umbringen, du Idiot. Dein kleiner Scherz hätte uns allen das Leben kosten können, ist dir das klar?«
Zornig stemmte sie sich in die Höhe, griff nach Gurks Arm und zerrte ihn so grob auf die Füße, daß der Zwerg einen quiekenden Laut ausstieß.
»Es ist doch nichts passiert, oder?« maulte Gurk.
Charity ignorierte ihn und sah rasch zu Stone und Skudder. »Ist jemand verletzt?« fragte sie.
Skudder schüttelte nur kurz den Kopf, während sich Stone unsicher aufrichtete und beinahe verblüfft auf die Waffe in seinen Händen hinabblickte. Charity musterte ihn einen Moment lang sehr aufmerksam. Sie waren alle ziemlich nervös, aber Stone mußte nach den Ereignissen der vergangenen Stunden unter einem Druck stehen, der fast unvorstellbar war. Sie nahm sich vor, ihn genauer im Auge zu behalten, und drehte sich zu French herum.
Sein Ameisenkostüm schwelte noch immer hier und da; die Gummihaut hatte Blasen geschlagen und wies jetzt große, häßlich verbrannte Flecken auf. Aber seine Haltung verriet keinen Schmerz, sondern nur Anspannung. »Alles in Ordnung?« fragte sie.
French reagierte im ersten Moment überhaupt nicht, sondern blickte weiter wie gebannt zum Ende des Ganges. Die Hitze hatte nachgelassen, aber die Wand glühte noch immer, und aus den verkohlten Chitinpanzern der Moroni leckten kleine, gelbe Flammen.
»Keine Sorge«, sagte Charity. »Sie sind tot.«
French starrte weiter auf die Moronikrieger. Er hob die Hand und massierte seinen schmerzenden linken Arm, in einer Bewegung, die er wahrscheinlich nicht einmal selbst registrierte. »Einer fehlt.«
Charity blickte ihn fragend an.
»Einen habe ich getötet«, sagte French. »Und dort liegen drei.«
»Das macht vier«, erwiderte Charity. »Und?«
»Es waren fünf.«
»Bist du sicher?« fragte Skudder erschrocken. »Ich habe nur vier gesehen.«
»Ich auch«, fügte Stone hinzu.
French schüttelte stur den Kopf. »Es waren fünf. Ich bin ganz sicher. Einer muß entkommen sein.«
Skudder murmelte einen Fluch und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, während Stone erbleichte. Gurk zog es vor, gar nichts zu sagen, und duckte sich unter Charitys Blick wie ein geprügelter Hund.
»Das heißt, daß sie in wenigen Augenblicken hier sein werden«, sagte Charity ruhig. Mit einem giftigen Seitenblick auf den Zwerg fügte sie hinzu: »Vielen Dank, Gurk.«
Gurk öffnete den Mund, um nun doch etwas zu erwidern, aber Charity schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Wir klären das später«, bemerkte sie. Dann wandte sie sich wieder an French. »Also los.«
French starrte sie an, und obwohl sie nur in die Gummimaske vor seinem Gesicht blickte, spürte sie sein Erstaunen. »Aber wohin denn?«
Charity deutete mit dem Lauf ihrer Waffe auf die Tür, hinter der ihr ursprüngliches Ziel lag. »Zu Ihren Leuten. Nachdem wir das da erledigt haben. Los!«
Das letzte Wort hatte sie bewußt in scharfem, befehlendem Ton gesprochen. Was immer French hatte sagen wollen, er drehte sich gehorsam herum und lief mit weit ausgreifenden Schritten vor ihnen her.
Die Hitze wurde so groß, daß sie es fast nicht geschafft hätten, aber sie hatten zumindest in einem Punkt Glück: Die Tür war nicht verschlossen, und der Mechanismus funktionierte noch so zuverlässig und schnell wie vor fünfzig Jahren. Mit einem kaum hörbaren Summen glitt das schwere Panzerschott vor ihnen zur Seite und gab den Eingang zu einer asymmetrisch geformten Kammer frei, deren Wände mit Regalen und Schränken so vollgestopft waren, daß sie zu fünft kaum darin Platz fanden.
Charity betrat die Kammer als letzte, und sie schloß die Tür nicht wieder, sondern gab Skudder mit Gesten zu verstehen, den Gang draußen im Auge zu behalten. »Schnell«, sagte sie dann an French gewandt. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Wir haben sogar weniger Zeit, als du glaubst«, sagte Skudder von der Tür her. »Sie kommen.«
Charity drängte sich an French vorbei und riß wahllos einen der Schränke auf. Er war vollgestopft mit Dingen, die vor einem halben Jahrhundert ihre Bedeutung verloren hatten: Werkzeuge, Ersatzteile, technische Gerätschaften und Batterien, Kleidungsstücke und Lebensmittelpakete. Es war so, wie sie vermutet hatte - sie waren in einem der alten Lagerräume, von denen es an der Peripherie der Station eine ganze Reihe gegeben hatte. Die Orbit-Stadt hatte am Schluß mehr als zweihundert ständige Bewohner gehabt, und sie war darauf eingerichtet gewesen, diese Anzahl von Menschen im Notfall ein volles Jahr lang versorgen zu können.
Während Charity rasch und nacheinander von Schrank zu Schrank ging und ihn aufriß, ohne irgend etwas zu finden, was ihnen im Augenblick weiterhelfen würde, mühte sich French mit Gurks Hilfe ab, eine Anzahl klobiger, in Signalgelb gestrichener Stahlflaschen von einem der Regale herunterzuwuchten; Reservetanks für die Sauerstoffflaschen, die zu den Anzügen des Wartungspersonals gehört hatten. Sie waren sehr viel schwerer und unhandlicher als die kleinen modernen Wiederaufarbeitungs-Packs und enthielten einen Luftvorrat, der knappe zwei Stunden reichte.
Charity sah den beiden einen Moment lang zu, und es fiel ihr auf, wie sehr sich French anstrengen mußte, um auch nur eine einzige dieser Flaschen anzuheben. Sie fragte ihn, wie um alles in der Welt er es geschafft hatte, dieses Gewicht zurück zu seinen Leuten zu schleppen.
»Normalerweise gehe ich nicht so weit in die Schwere Zone«, antwortete French. »Und mehr als eine ist auch nicht nötig.«
Er riskierte sein Leben, um einen Sauerstoffvorrat für zwei Stunden zu erbeuten? Charity war mehr als nur ein wenig verwirrt, fuhr aber fort, den Inhalt der Kammer gründlich zu inspizieren. French und Gurk häuften unterdessen vier der klobigen Stahlflaschen neben dem Eingang auf. Offensichtlich setzte French wortlos voraus, daß sie ihm beim Abtransport seiner Beute helfen würden.
Hinter der letzten Tür, die sie öffnete, fand Charity, wonach sie gesucht hatte: Säuberlich aufgereiht hing ein Dutzend silberfarbener Vakuumanzüge. Es waren keine wirklichen Raumanzüge, sondern mit Silber und Aluminium versehene Overalls, die ihre Träger bestenfalls zwei oder drei Stunden vor der Weltraumkälte oder der direkten Sonneneinstrahlung zu schützen vermochten.
»Was immer ihr da tut«, sagte Skudder von der Tür her, »beeilt euch. Da draußen geht irgend etwas vor.«
Charity warf ihm einen besorgten Blick zu, dann nahm sie einen der Anzüge aus dem Schrank, öffnete ihn und stieg mit raschen Bewegungen hinein. Stone sah ihr mit großen Augen dabei zu, während sich Gurks Stirn noch mehr in Falten legte. French war wieder zum Regal getreten, beschäftigte sich aber jetzt nicht mehr mit den Sauerstoffflaschen, sondern wühlte mit fliegenden Fingern in einem darunterliegenden Fach. Nach einigen Augenblicken hatte er gefunden, wonach er suchte. Mit einem erleichterten Seufzen zog er eine zusammengefaltete Kunststoffolie aus dem Fach, breitete sie vor sich auf dem Boden aus - und gab einen enttäuschten Laut von sich. Wortlos starrte er auf den Plastiksack vor sich, dann fuhr er plötzlich herum und trat abermals an das Fach heran. Diesmal wühlte er mit hektischen, fast schon panikerfüllten Bewegungen dessen Inhalt durch. Nach einigen Augenblicken fand er eine zweite Kunststoffolie, die er so hastig herauszerrte und ebenfalls ausbreitete, daß er sie beinahe zerrissen hätte. Nicht, daß das noch einen großen Unterschied machte - Charity sah, daß die Kunststoffhaut an zahlreichen Stellen eingerissen war. Sie fragte sich, was er damit vorgehabt hatte. Sie kannte den Verwendungszweck dieser Folien: Aufgeblasen bildeten sie eine Art Miniatur-Behelfsraumschiff; eine Luftblase, um Nachschubgüter, die dem Vakuum nicht ausgesetzt werden durften, an Bord der Station oder umgekehrt in eines der Shuttles zu transportieren. Aber es gab hier drinnen absolut nichts, was sie mitnehmen konnten.