Zedd beugte sich auf seine Knie gestützt nach vorn. Mit geübter Präzision ließ er den Staub aus seiner Faust rieseln und zeichnete zur Veranschaulichung rasch jenes Symbol nach, das er bereits in den Fußboden geritzt hatte.
»Der äußere Kreis stellt den Beginn der Unterwelt dar – die grenzenlose Welt der Toten. Außerhalb dieses Kreises, in der Unterwelt, existiert ansonsten nichts; dort existiert nur die Ewigkeit. Das ist auch der Grund, weshalb die Huldigung an dieser Stelle begonnen wird: aus dem Nichts, dort, wo zuvor nichts war, entstand die Schöpfung.«
In dem äußeren Kreis lag ein Quadrat, dessen Ecken den Kreis berührten. Dieses Quadrat enthielt einen weiteren Kreis, der gerade so groß war, daß er die Innenseiten des Quadrats berührte. Der Mittelkreis beinhaltete einen achtstrahligen Stern; gerade, ganz am Ende gezeichnete Linien gingen strahlenförmig von den Zacken des Sterns aus und durchbohrten beide Kreise vollständig, wobei jede zweite Linie jeweils einen Winkel des Quadrats halbierte.
Das Quadrat stellte den Schleier dar, der den äußeren Kreis der Welt der Seelen – der Unterwelt, der Welt der Toten – von der Welt des Lebendigen trennte. Der Stern im Zentrum all dessen stand für das Licht – den Schöpfer –, wobei die Strahlen Seiner magischen Gabe aus jenem Licht stammten, das sämtliche Grenzen überschritt.
»Das habe ich irgendwo schon mal gesehen.« Richard drehte seine Handgelenke herum und legte sie auf die Knie.
Seine silbernen Manschetten waren rundherum mit seltsamen Symbolen besetzt, in der Mitte einer jeden aber, an den Innenseiten seiner Handgelenke, befand sich eine Huldigung. Sie befanden sich auf der Unterseite seiner Handgelenke, daher hatte Kahlan sie zuvor noch nie bemerkt.
»Die Huldigung ist ein Trugbild des Kontinuums der Gabe«, sagte Richard, »dargestellt anhand der Strahlen: ausgehend vom Schöpfer, während des gesamten Lebens und im Augenblick des Todes den Schleier in die Ewigkeit zusammen mit den Seelen im Unterweltreich des Hüters durchschreitend.« Er rieb mit dem Daumen über die Zeichnungen auf einer Manschette. »Gleichzeitig ist sie ein Symbol der Hoffnung, von Geburt an – während des gesamten Lebens und darüber hinaus sowie im Nachleben der Unterwelt – im Licht des Schöpfers verweilen zu können.«
Zedd machte ein erstauntes Gesicht. »Sehr gut, Richard. Aber woher weißt du das?«
»Ich habe die Sprache der Embleme verstehen gelernt, außerdem habe ich das eine oder andere über die Huldigung gelesen.«
»Die Sprache der Embleme …?« Kahlan bemerkte, daß Zedd große Mühe hatte, sich zu zügeln. »Du mußt wissen, mein Junge, daß eine Huldigung an die magische Verwandlungskraft von Konsequenzen appellieren kann. Eine Huldigung kann, wenn sie mit gefährlichen Substanzen wie zum Beispiel Zauberersand gezeichnet oder auf andere Weise benutzt wird, grundlegende Auswirkungen haben…«
»Zum Beispiel, indem man die Art, wie die Welten aufeinander einwirken, verändert, um ein Ziel zu erreichen«, beendete Richard seinen Satz. Er sah auf. »Ich habe ein wenig darüber gelesen.«
Zedd setzte sich auf die Fersen. »Mehr als nur ein wenig, wie mir scheint. Ich möchte, daß du uns alles erzählst, was du seit unserem letzten Beisammensein getan hast.« Er wedelte drohend mit dem Finger. »Und zwar jede Kleinigkeit.«
»Was versteht man unter einer unheilvollen Huldigung?« fragte Richard statt dessen.
Zedd beugte sich vor, diesmal sichtlich verblüfft. »Eine was?«
»Eine unheilvolle Huldigung«, wiederholte Richard leise, während sein Blick über die Zeichnung auf dem Boden wanderte.
Kahlan wußte ebensowenig wie Zedd, wovon Richard sprach, aber sie kannte dieses Verhalten von ihm bereits. Sie hatte Richard ab und zu in diesem Zustand erlebt, wenn er sich fast an einem anderen Ort zu befinden schien und wundersame Fragen stellte, während er über ein dunkles, düsteres Problem nachsann. Es gehörte zum Wesen des Suchers. Gleichzeitig war es eine Warnung, die ihr verriet, daß seiner Ansicht nach etwas ernstlich nicht in Ordnung war. Sie spürte, wie sie eine prickelnde Gänsehaut an den Unterarmen bekam.
Kahlan fiel auf, wie Ann ernst die Stirn in Falten legte. Zedd war beinahe bis zum Bersten angespannt, ihm Tausende von Fragen zu stellen, Kahlan wußte jedoch, daß auch ihm Richards Art, sich gelegentlich aus unerklärlichen Gründen zu verlieren und unerwartete Fragen zu stellen, bekannt war. Zedd tat sein Bestes, sie zu beantworten.
Mit den Fingerspitzen über die Furchen auf seiner Stirn reibend und tief durchatmend, nahm Zedd all seine Geduld zusammen. »Verdammt, Richard, aber von einer unheilvollen Huldigung habe ich noch nie etwas gehört. Wo hast du davon erfahren?«
»Ich habe nur irgendwo davon gelesen«, erwiderte Richard kaum hörbar. »Zedd, kannst du eine neue Grenze errichten? Könntest du eine Grenze heraufbeschwören, wie du es vor meiner Geburt getan hast?«
Zedds Gesicht verzog sich zu einer Grimasse heftigster Verzweiflung. »Warum sollte ich…«
»Um die Alte Welt abzutrennen und den Krieg zu beenden.«
Zedd wurde in einem unbedachten Augenblick erwischt und hielt offenen Mundes inne, dann aber fing er breit zu grinsen an, bis seine runzelige Haut sich fest über seine Wangenknochen spannte.
»Sehr gut, Richard. Du wirst einen ausgezeichneten Zauberer abgeben, stets denkst du daran, wie du die Magie dazu bringen kannst, für dich zu arbeiten und Schaden und Unheil abzuwenden.« Sein Grinsen erlosch. »Eine sehr gute Überlegung, aber nein, ich kann es nicht noch einmal tun.«
»Warum nicht?«
»Damals handelte es sich um einen Dreierbann, was bedeutet, daß er in dreien von diesem und dreien von jenem eingebunden war. Ein so mächtiger Bann ist gewöhnlich gut geschützt – wobei die Anordnung in Dreiergruppen nur ein Mittel darstellt, die Freisetzung von gefährlicher Magie zu verhindern. Der Grenzbann war eine davon, ich entdeckte ihn in einem sehr alten Text aus dem Großen Krieg.
Nach deinem Interesse für das Studium alter Schriften voller merkwürdiger Dinge zu urteilen, scheinst du ganz nach deinem Großvater zu kommen.« Er runzelte die Stirn. »Der Unterschied ist, ich habe mein ganzes Leben lang Studien betrieben und wußte, was ich tat. Ich kannte die Gefahren und wußte wie man ihnen aus dem Weg geht oder sie wenigstens so gering wie möglich hält. Ich wußte, zu was ich fähig war, und kannte meine Grenzen. Das ist ein großer Unterschied, mein Junge.«
»Es gab nur zwei Grenzen«, drängte Richard.
»Nun, die Midlands waren in einen entsetzlichen Krieg mit D’Hara verwickelt.« Zedd ließ sich im Schneidersitz nieder, während er die Geschichte erzählte.
»Den ersten benutzte ich, um in Erfahrung zu bringen, wie man den Bann betätigt, wie er funktioniert und wie man ihn freisetzt. Den zweiten benutzte ich, um die Midlands und D’Hara voneinander zu trennen – um den Krieg zu verhindern. Den letzten der drei benutzte ich, um Westland im Namen all derer abzuspalten, die einen Ort wünschten, an dem sie unbehelligt von Magie leben konnten. Dadurch verhinderte ich einen Aufstand gegen die mit der Gabe Gesegneten.«
Kahlan hatte große Mühe, sich vorzustellen, wie eine Welt ohne Magie aussähe. Der Gedanke erschien ihr insgesamt grauenvoll und düster, sie wußte jedoch, es gab Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschten als ein Leben ohne Magie. Westland, obschon nicht groß, war ein solcher Ort gewesen. Wenigstens für eine Weile, diese Zeit jedoch war jetzt vorbei.
»Nie wieder Grenzen.« Zedd warf die Hände in die Höhe. »Und damit ist der Fall erledigt.«
Es war fast ein Jahr her, daß Darken Rahl die Grenzen zum Einsturz gebracht hatte und sie dahingeschwunden waren, bis die drei Länder sich wieder vereinten. Bedauerlicherweise würde Richards Einfall nicht funktionieren, die Alte Welt auszusperren und auf diese Weise zu verhindern, daß der Krieg auf die Neue Welt übergriff. Zahllose Menschenleben hätten damit gerettet werden können, die in einer eben erst beginnenden Auseinandersetzung noch verloren gehen würden.