»Hat einer von euch eine Ahnung«, fragte Ann in die Stille hinein, »wo sich der Prophet aufhält? Nathan?«
»Ich habe ihn zuletzt gesehen«, meinte Kahlan. »Er hat mir geholfen, Richard das Leben zu retten, indem er mir das aus dem Tempel der Winde gestohlene Buch überließ und mir die magischen Worte verriet, die ich benötigte, um das Buch zu vernichten und Richard am Leben zu halten, bis er von der Pest genesen konnte.«
Ann sah aus wie eine Wölfin, die im Begriff stand, über ihr Abendessen herzufallen. »Und wo könnte das gewesen sein?«
»Es war irgendwo in der Alten Welt, Schwester Verna war ebenfalls dort. Kurz zuvor war jemand, den Nathan zutiefst liebte, vor seinen Augen ermordet worden. Er sagte, manchmal seien die Prophezeiungen stärker als unser Versuch, sie zu überlisten, und manchmal hielten wir uns für gerissener, als wir seien, und glaubten, wir könnten dem Schicksal Einhalt gebieten, wenn wir dies nur stark genug wollten.«
Kahlan fuhr mit dem Finger durch den Staub. »Er brach mit zweien seiner Männer, Walsh und Bollesdun, auf, um, wie er sagte, Richard seinen Titel als Lord Rahl zurückzugeben. Verna erklärte er, sie solle sich die Mühe sparen, ihm zu folgen. Er meinte, es würde ihr ohnehin nicht gelingen.«
Kahlan sah auf und blickte in Anns plötzlich sorgenvolle Augen. »Ich glaube, Nathan brach auf, um zu vergessen, was immer in jener Nacht endete. Um die Person zu vergessen, die ihm geholfen und dabei ihr Leben gelassen hatte. Ich glaube nicht, daß ihr ihn findet, solange er das nicht will.«
Zedd schlug sich mit der Hand auf die Knie und brach sein Schweigen. »Ich will alles wissen, was seit unserem letzten Zusammensein geschehen ist, Richard, seit Anfang letzten Winters. Die ganze Geschichte, laß nichts aus – jedes Detail ist wichtig. Du verstehst das vielleicht nicht, aber Einzelheiten können von entscheidender Bedeutung sein. Ich muß alles wissen.«
Richard hob lange genug den Kopf, um den gespannt erwartungsvollen Gesichtsausdruck seines Großvaters zu bemerken. »Ich wünschte, wir hätten die Zeit, dir davon zu erzählen, Zedd, aber das ist leider nicht der Fall. Kahlan, Cara und ich müssen zurück nach Aydindril.«
Ann nestelte an einem Knopf ihres Kragens. Kahlan fand, daß die Fassade ihrer gespielten Nachsicht die ersten Risse bekam. »Wir könnten jetzt beginnen und uns morgen unterwegs weiter unterhalten.«
»Du weißt gar nicht, wie gerne wir bei euch bleiben würden, aber leider ist für eine solche Reise keine Zeit«, sagte Richard. »Wir müssen uns beeilen und werden deshalb durch die Sliph reisen müssen. Tut mir leid, wirklich, aber durch die Sliph könnt ihr uns nicht begleiten. Ihr werdet euch allein auf den Weg nach Aydindril machen müssen. Gleich nach eurem Eintreffen können wir uns weiter unterhalten.«
»Die Sliph?« Zedd rümpfte die Nase, als er das Wort aussprach. »Wovon redest du überhaupt?«
Richard antwortete nicht, schien ihn nicht einmal zu hören. Er beobachtete das mit einem Tuch verhängte Fenster. Kahlan antwortete an seiner Stelle.
»Die Sliph ist eine…« Sie hielt inne. Wie erklärte man so etwas? »Nun, sie ist so etwas wie lebendiges Quecksilber. Sie kann mit uns kommunizieren. Sprechen, meine ich.«
»Sprechen«, wiederholte Zedd tonlos. »Und was erzählt sie so?«
»Das Sprechen ist nicht wichtig.« Kahlan fuhr mit dem Daumennagel an ihrer Hosennaht entlang, während sie in Zedds haselnußbraune Augen blickte. »Die Sliph wurde während des Großen Krieges von den Zauberern erschaffen; diese machten Menschen zu Waffen, und auf ebendiese Weise schufen sie auch die Sliph. Früher war sie eine Frau. Sie benutzten ihr Leben dazu, die Sliph zu erschaffen, ein Wesen, das mit Hilfe von Magie etwas ermöglicht, was man Reisen nennt. Sie wurde dafür benutzt, rasch große Entfernungen zurückzulegen, wirklich große Entfernungen, zum Beispiel von hier nach Aydindril oder an zahlreiche andere Orte in weniger als einem Tag.«
Zedd dachte über ihre Worte nach, so erstaunlich sie ihm auch – Kahlan war sich dessen sicher – erscheinen mußten. Ihr war es anfangs ebenso ergangen. Normalerweise dauerte eine solche Reise viele Tage, selbst zu Pferd, unter Umständen sogar mehrere Wochen.
Kahlan legte ihm eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid, Zedd, aber du und Ann, ihr könnt nicht mitkommen. Wie du gerade erklären wolltest, unterliegt die Magie der Sliph zu ihrem eigenen Schutz gewissen Regeln. Aus diesem Grund mußte Richard auch sein Schwert zurücklassen, seine Magie ist mit der Magie der Sliph unvereinbar.
Um in der Sliph reisen zu können, muß man außer der Additiven auch über einen kleinen Anteil Subtraktiver Magie verfügen. Ein Teil davon ist in meine Konfessorenkraft eingebunden, und Cara fängt mit Hilfe ihrer Fähigkeiten als Mord-Sith die Gabe eines Andoliers ein, der ein Element davon besitzt, wodurch sie ebenfalls reisen kann. Und Richard verfügt ohnehin über die Gabe der Subtraktiven Magie.«
»Du hast Subtraktive Magie benutzt! Aber … aber, wie … was sollen … wo…« stammelte Zedd, der nicht mehr wußte, welche Frage er zuerst stellen sollte.
»Die Sliph lebt in diesem steinernen Brunnen. Richard hat die Sliph herbeigerufen, und jetzt können wir in ihr reisen. Wir müssen allerdings vorsichtig sein, denn sonst gelingt es Jagang, seine Günstlinge hindurchzuschleusen.« Kahlan schlug die Innenseiten ihrer Handgelenke leicht gegeneinander. »Wenn wir gerade nicht reisen, schickt Richard sie schlafen, indem er seine Armbänder aneinanderlegt – an den auf ihnen befindlichen Huldigungen –, und dann vereint sie sich wieder mit ihrer Seele in der Unterwelt.«
Anns Gesicht war aschfahl geworden. »Zedd, ich habe dich gewarnt. Wir dürfen einfach nicht zulassen, daß er allein herumläuft. Er ist zu wichtig. Am Ende läßt er zu, daß ihn irgend jemand umbringt.«
Zedd sah aus, als könnte er jeden Augenblick in die Luft gehen. »Du hast die Huldigungen auf den Armbändern benutzt? Verdammt, Richard, du hast ja keine Ahnung, was du damit anrichten kannst! Du spielst mit dem Schleier, wenn du das tust!«
Richard, mit seinen Gedanken woanders, schnippte mit den Fingern und deutete auf die dicken Scheite unter der Bank. Ungeduldig wedelte er mit der Hand, bis Zedd ihm stirnrunzelnd einen der dicken Zweige reichte. Richard brach ihn über dem Knie entzwei, während er das Fenster im Auge behielt.
Im grellen Licht des nächsten Blitzes sah Kahlan die Umrisse eines Huhns, das hinter dem Tuch auf dem Fensterbrett hockte. Als der Blitz zuckte und der Donner krachte, bewegte sich der Schatten des Huhns in eine Fensterecke.
Richard warf den Stock.
Er traf den Vogel mitten auf die Brust; mit heftig schlagenden Flügeln und einem erschrockenen Schrei stürzte er rücklings aus dem Fenster.
»Richard!« Kahlan packte ihn am Ärmel. »Warum tust du so etwas? Das Huhn hat niemandem was getan. Das arme Tier wollte sich doch bloß vor dem Regen schützen.«
Auch das schien er nicht zu hören. Er wandte sich an Ann. »Du hast mit ihm zusammen in der Alten Welt gelebt. Wieviel weißt du über den Traumwandler?«
»Nun, vermutlich eine ganze Menge«, stammelte sie überrascht.
»Du weißt, daß Jagang in den Verstand von Menschen eindringen, zwischen ihre Gedanken schlüpfen und sich dort einnisten kann, sogar ohne deren Wissen?«
»Selbstverständlich.« Sie wirkte fast empört angesichts einer so grundlegenden Frage über den Feind, gegen den sie kämpften. »Du bist jedoch geschützt, sowie all jene, die dir über die Bande verpflichtet sind. Der Traumwandler kann in den Verstand keines Menschen eindringen, der Lord Rahl ergeben ist. Den Grund dafür kennen wir nicht, wir wissen nur, daß es so ist.«
Richard nickte. »Alric. Er ist der Grund.«
Zedd zwinkerte verwirrt mit den Augen. »Wer?«
»Alric Rahl, einer meiner Vorfahren. Ich habe gelesen, die Traumwandler seien eine vor dreitausend Jahren im Großen Krieg ersonnene Waffe. Alric Rahl schuf einen Bann – die Bande –, um auf diese Weise sein Volk oder jeden, der einen Eid auf ihn geleistet hatte, vor diesen Traumwandlern zu schützen. Die Schutzmacht der Bande vererbt sich auf jeden Rahl, der die Gabe besitzt.«