»Nun, es war der Kutscher, der die Leiche fand. Er machte kehrt, um die Stadtwache zu holen.«
»Aber Meister Campbell, das habt Ihr uns doch schon gesagt«, warf Morley ein.
»Gewiss. Nun, soeben erfahre ich, er habe seinem Begleiter vor seiner Umkehr aufgetragen, zurückzubleiben. Der Mann ist eurer Spur durch das Weizenfeld gefolgt. Bis zu dem Teich.«
»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Snip. »Soll das heißen, er hat uns alle gesehen, wie wir dort geschwommen sind und uns gewaschen haben?«
»Euch beide jedenfalls. Soeben hat er mir eure Namen genannt. Snip und Morley, sagte er – aus der Küche des Anwesens.«
Snips Herz pochte unkontrolliert. Er versuchte nachzudenken, doch die Panik schlug ihm schneller über dem Kopf zusammen, als er sie unterdrücken konnte. Ob er einen guten Grund hatte oder nicht, man würde ihn in jedem Fall hinrichten.
»Aber wieso hat der Mann nicht schon früher etwas gesagt, wenn er uns tatsächlich gesehen hat?«
»Was? Oh. Vermutlich hat ihm der Anblick der Leiche und all dies einen Schock versetzt, daher hat er…« Dalton Campbell machte eine abwiegelnde Handbewegung. »Versteht doch, wir haben keine Zeit, über längst geschehene Dinge zu diskutieren. Daran können wir jetzt nichts mehr ändern.«
Der hoch gewachsene Anderier zog eine Lade auf. »Mir ist überaus unwohl bei der Geschichte. Ich weiß, ihr zwei habt gute Arbeit für mich geleistet – für Anderith. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen – ihr seid gesehen worden.«
Er entnahm der Lade einen schweren ledernen Beutel und ließ ihn klirrend auf den Schreibtisch fallen.
»Und was wird jetzt aus uns?«, wollte Morley wissen. Seine Augen hatten die Größe von Goldsouvereigns. Snip wusste, wie seinem Freund zumute war. Ihm zitterten selbst die Knie, wenn er sich seine Hinrichtung vorzustellen versuchte.
Ein neuer Schrecken stieg ihm die Kehle hoch, dass er fast aufgeschrien hätte. Er musste daran denken, wie Franca ihm von dem Mob erzählt hatte, der ihr einen Strick um den Hals gelegt und sie daran hochgezogen hatte, um unter ihr ein Feuer anzurichten, während sie zu ersticken drohte und ihre Füße ins Leere traten. Nur dass Snip keine Magie besaß, die ihm helfen würde zu fliehen. Er hob die Hand und fühlte schon den derben Strick um seinen Hals.
Dalton Campbell schob den Lederbeutel über den Schreibtisch. »Ich möchte, dass ihr dies nehmt.«
Snip musste sich zusammenreißen, um zu begreifen, was Dalton Campbell gesagt hatte. »Was ist das?«
»Größtenteils Silber, ein paar Goldstücke sind auch darunter. Wie gesagt, mir ist überaus unwohl bei der Geschichte. Ihr wart beide eine große Hilfe und habt mir bewiesen, dass man euch trauen kann. Jetzt jedoch, da euch jemand gesehen hat, der euch als diejenigen identifizieren kann, die … man würde euch für die Ermordung Claudine Winthrops hinrichten.«
»Aber Ihr könntet ihnen doch erklären…«
»Ich kann ihnen überhaupt nichts erklären, denn ich bin in erster Linie Bertrand Chanboor und der Zukunft Anderiths verpflichtet. Der Herrscher ist erkrankt, jeden Tag kann Bertrand Chanboor zum neuen Herrscher berufen werden. Ich kann wegen dieser Claudine Winthrop nicht das ganze Land im Chaos versinken lassen. Ihr beide seid so etwas wie Soldaten im Krieg. Im Krieg gehen gute Leute verloren. Außerdem würde mir jetzt, da die Gefühlsausbrüche über diese Geschichte so hohe Wellen schlagen, ohnehin niemand zuhören. Eine aufgebrachte Menschenmenge würde euch fortschleifen und…«
Snip glaubte in Ohnmacht zu fallen. Sein Atem ging so schnell, dass er kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren. »Ihr glaubt, wir sollen hingerichtet werden?«
Dalton Campbell schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was? Nein.« Er versetzte dem Lederbeutel abermals einen Stoß. »Wie gesagt, dies ist eine Menge Geld. Nehmt es. Flieht. Begreift ihr nicht? Ihr müsst von hier verschwinden, oder man wird euch hinrichten, bevor das nächste Mal die Sonne untergeht.«
»Aber wohin sollen wir denn gehen?«, wollte Morley wissen.
Dalton Campbell machte eine fahrige Bewegung Richtung Fenster. »Fort. Weit weg. Weit genug, dass man euch niemals findet.«
»Aber könnte man die Sache nicht irgendwie in Ordnung bringen, damit die Leute wissen, dass wir nur getan haben, was getan werden musste…«
»Und die Vergewaltigung Beatas? Beata hättet ihr doch nicht zu vergewaltigen brauchen.«
»Was?«, entfuhr es Snip gedehnt. »Das würde ich nie – ich schwöre, so etwas würde ich niemals tun. Bitte, Meister Campbell, das würde ich niemals tun.«
»Was du tun würdest oder nicht, spielt keine Rolle. Soweit es die Leute betrifft, die hinter euch her sind, hast du es getan. Sie werden nicht einfach innehalten, nur damit ich sie zur Vernunft bringen kann. Sie werden erst gar nicht auf mich hören. Sie werden denken, dieselben Leute, die Claudine vergewaltigt und getötet haben, haben auch Beata vergewaltigt. Sie werden euch keinen Glauben schenken, nicht, wenn ein Mann euch als die Mörder Claudine Winthrops identifizieren kann. Ob ihr Beata vergewaltigt habt oder nicht, ist dabei ohne Belang. Der Mann, der euch gesehen hat, ist Anderier.«
»Die Leute, die hinter uns her sind?« Morley wischte sich mit zittriger Hand durch sein bleiches Gesicht. »Soll das heißen, es sind bereits Leute hinter uns her?«
Dalton Campbell nickte. »Bleibt ihr hier, wird man euch für beide Verbrechen hinrichten. Eure einzige Chance ist die Flucht – und zwar schnell. Weil ihr zwei so verlässliche Männer für mich gewesen seid und euch so beherzt für die anderische Kultur eingesetzt habt, wollte ich euch warnen, damit ihr wenigstens eine Chance habt zu entkommen. Ich überlasse euch meine gesamten Ersparnisse, damit ihr fliehen könnt.«
»Eure Ersparnisse?« Snip schüttelte den Kopf. »Aber nein, Sir, Eure Ersparnisse können wir unmöglich annehmen, Meister Campbell. Ihr habt eine Frau und…«
»Ich bestehe darauf. Falls nötig, werde ich es euch befehlen. Ich werde nur dann nachts ruhig schlafen können, wenn ich weiß, dass ich euch wenigstens auf diese bescheidene Weise helfen konnte. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um meine Männer zu unterstützen. Dies ist das Mindeste, was ich für euch zwei tapferen Burschen tun kann.«
Er deutete auf den Lederbeutel. »Nehmt es. Teilt es zwischen euch auf. Benutzt es, um weit von hier fortzukommen. Fangt ein neues Leben an.«
»Ein neues Leben?«
»Ganz recht«, sagte Meister Campbell. »Ihr könntet euch sogar Schwerter davon kaufen.«
Morley blinzelte erstaunt. »Schwerter?«
»Natürlich. Dort liegt genug, dass jeder von euch sich ein Dutzend Schwerter kaufen könnte. Wenn ihr in ein anderes Land geht, wird euch niemand für Hakenier halten, so wie hier. An vielen Orten wärt ihr freie Männer und könntet euch Schwerter beschaffen. Fangt ein neues Leben an. Eine neue Arbeit, alles. Mit einer solchen Summe könntet ihr nette Frauen kennen lernen und ihnen den Hof machen, wie es sich gehört.«
»Aber wir haben Fairfield doch noch nie verlassen«, wandte Morley, den Tränen nahe, ein.
Dalton Campbell legte die Hände auf den Schreibtisch und beugte sich zu ihnen vor. »Wenn ihr hierbleibt, werdet ihr hingerichtet. Den Wachen sind eure Namen bekannt, zweifellos suchen sie bereits nach euch, während wir uns hier unterhalten. Vermutlich sind sie euch dicht auf den Fersen. Ich bete zum Schöpfer, dass sie euch nicht haben hier heraufkommen sehen. Nehmt das Geld und flieht, wenn ihr weiterleben wollt. Fangt ein ganz neues Leben an.«
Snip riskierte einen schnellen Blick über seine Schulter. Er sah oder hörte niemanden, trotzdem konnte man sie jeden Augenblick eingeholt haben. Er wusste nicht, was er tun sollte, eins aber wusste er: Sie mussten Dalton Campbeils Rat befolgen und fliehen.
Snip nahm den Lederbeutel vom Schreibtisch. »Ihr seid der gütigste Mann, dem ich je begegnet bin, Meister Campbell. Ich hätte gerne den Rest meines Lebens für Euch gearbeitet. Vielen Dank für Eure Warnung, dass man uns auf den Fersen ist, und für den Vorsprung, den Ihr uns gebt.«