»Noch mal«, befahl der Captain.
Beata, die als Erste in der Reihe stand, hob ihr Schwert an und rannte los. Sie stieß ihre Waffe in die an einem Seil hängende Strohpuppe; diesmal bohrte sie ihr das Schwert mitten durchs Bein.
»Ausgezeichnet, Beata!«, meinte Captain Tolbert. Er lobte die Rekrutinnen stets, wenn er guthieß, was sie taten. Für Beata als Hakenierin war dieses Lob eine seltsame Erfahrung.
Sie wäre beinahe gestürzt, als sie der Strohpuppe das Schwert im Vorüberrennen wieder aus dem Bein ziehen wollte. Schließlich gelang es ihr, wenn auch ohne Eleganz. Die anderen schafften sogar das manchmal nicht.
Zum Glück hatte Beata jahrelange Erfahrung mit Messern. Deren Klingen waren zwar kleiner gewesen, aber sie wusste, wie man mit ihnen umging und in die beabsichtigte Stelle stach.
Als Hakenierin durfte Beata Messer angeblich nicht benutzen, weil es Waffen seien, da sie jedoch für einen Metzger gearbeitet hatte, sah man darüber hinweg, denn Metzger waren Anderier und hielten ihre Arbeiter an der kurzen Leine. Metzger ließen die hakenischen Mädchen und Frauen das Fleisch lediglich gemeinsam mit den Anderiern zerteilen. Die hakenischen Burschen und Männer, die für sie arbeiteten, waren hauptsächlich für das Heben und Tragen zuständig – Tätigkeiten, die den Umgang mit Messern nicht erforderlich machten.
Drei der anderen Rekrutinnen – Carine, Emmeline und Annette – waren ebenfalls Hakenierinnen und hatten vorher nie etwas Gefährlicheres als ein stumpfes Brotmesser in der Hand gehabt. Die vier anderischen Burschen – Turner, Norris, Karl und Bryce – stammten nicht aus wohlhabenden Familien und hatten ebenfalls noch kein Schwert in Händen gehalten, als Jungen jedoch mit Stöcken anstelle von Schwertern gespielt.
Beata war sich darüber im Klaren, dass Anderier den Hakeniern in jeder Hinsicht überlegen waren; trotzdem hatte sie Mühe, Turner, Norris, Karl und Bryce nicht lächerlich zu machen. Ein dümmliches Grinsen aufsetzen, das konnten sie am besten. Soweit sie dies beurteilen konnte, erschöpften sich ihre Fähigkeiten damit auch schon; meist stolzierten sie herum und gaben voreinander an.
Die beiden anderischen Rekrutinnen, Estelle Ruffin und Marie Fauvel, waren im Umgang mit Schwertern ebenfalls völlig unerfahren. Trotzdem machte ihnen das Herumhantieren mit den neuen Schwertern ebenso viel Spaß wie allen anderen. Auch sie waren besser als die vier anderischen Burschen. Was dies anbelangte, waren sogar die hakenischen Mädchen Carine, Emmeline und Annette als Soldaten besser.
Die Burschen konnten fester zuschlagen, die Mädchen trafen dafür häufiger das Ziel. Captain Tolbert strich dies in aller Deutlichkeit heraus, damit die jungen Burschen begriffen, dass sie nicht besser waren als die Mädchen. An die Burschen gewandt meinte er, es sei völlig unerheblich, wie fest man mit einem Schwert zuschlagen könne, solange man nichts traf.
Karl hatte sich gleich am ersten Tag eine klaffende Wunde am Bein beigebracht, die hatte genäht werden müssen. Er humpelte, noch immer grinsend, umher, ganz verwundeter Soldat.
Emmeline zielte im Vorüberlaufen auf das Bein der Strohpuppe. Sie verfehlte das hin und her schwingende Bein, stattdessen verfing sich die Spitze ihres Schwertes im Strick um die Hüfte aus Stroh. Sie landete flach auf ihrer hakenischen Nase.
Die vier anderischen Jungen brachen in schallendes Gelächter aus, die Mädchen nicht, weder die Anderierinnen noch die Hakenierinnen. Leise beschimpften die Burschen Emmeline als tölpelhafte Kuh und bedachten sie mit noch ein paar anderen Nettigkeiten.
Knurrend vor Zorn packte Captain Tolbert den Nächstbesten am Kragen: Bryce. »Ich hab’s dir schon einmal gesagt, in deinem alten Leben magst du andere ausgelacht haben, aber nicht hier! Man lacht nicht über seine Kameraden, auch nicht, wenn sie Hakenier sind! Hier seid ihr alle gleich!«
Er stieß Bryce von sich. »Eine solche Respektlosigkeit gegenüber den eigenen Kameraden verlangt nach Strafe. Ich möchte, dass mir jeder von euch eine gerechte Bestrafung nennt.«
Captain Tolbert zeigte auf Annette und bat sie, eine gerechte Bestrafung zu nennen. Sie überlegte einen Augenblick und meinte schließlich, die Burschen sollten sich entschuldigen. Carine und Emmeline, die beiden anderen Hakenierinnen, sagten, sie seien derselben Ansicht. Dann fragte er Estelle. Sie strich sich das dunkle anderische Haar aus dem Gesicht und antwortete, die Burschen gehörten aus der Armee entfernt. Marie Fauvel pflichtete ihr bei, fügte jedoch hinzu, man könnte sie vielleicht im kommenden Jahr wieder aufnehmen. Nach ihrer Vorstellung von einer Bestrafung gefragt, antworteten die vier jungen Burschen, man solle von ihnen verlangen, dergleichen nie wieder zu tun.
Captain Tolbert wandte sich zu Beata. »Du möchtest gerne Sergeant werden. Was wäre deiner Ansicht nach eine gerechte Bestrafung, wärest du bereits Sergeant?«
Beata hatte ihre Antwort parat. »Wenn wir alle gleichgestellt sind, dann sollten wir auch alle gleich behandelt werden. Da die vier das alles für so komisch halten, sollte der gesamte Trupp anstelle des Abendessens eine neue Latrine ausheben.« Sie verschränkte die Arme. »Wenn einer von uns beim Graben hungrig wird, nun, dann wissen wir wenigstens, dass wir das diesen vier Knaben zu verdanken haben.«
Captain Tolbert lächelte zufrieden. »Beata hat eine gerechte Bestrafung genannt. So soll es also geschehen. Falls jemand etwas dagegen einzuwenden hat, kann er nach Hause zum Rockschoß seiner Mutter zurückkehren, denn dann fehlt ihm der Mumm, den man als Soldat braucht, um sich für seine Kameraden einzusetzen.«
Estelle und Marie, die beiden Anderierinnen, bedachten die anderischen Jungen mit finsteren Blicken. Die Burschen ließen die Köpfe hängen und blickten unverwandt zu Boden. Die hakenischen Mädchen waren auch nicht gerade glücklich über die Lösung, aber die Jungen fürchteten sich mehr vor den bösen Blicken der Anderierinnen.
»Nun«, meinte Captain Tolbert, »beenden wir den Drill, damit ihr, sobald die Glocke zum Abendessen geschlagen wird, gleich mit dem Graben anfangen könnt.«
Niemand wagte aufzumucken. Sie hatten gelernt, dass es besser war, sich nicht zu beschweren.
Beata lief der Schweiß in den Nacken, als sie in Zweierreihen nebeneinander über die schmale Straße marschierten. Eigentlich war es eher ein Pfad – kaum mehr als zwei Fahrrinnen von den Nachschubkarren. Captain Tolbert führte sie an, Beata bildete die Spitze der fünf Soldaten in der linken Fahrrinne, und Marie Fauvel marschierte rechts davon, an der Spitze der fünf Soldaten hinter ihr.
Beata war stolz, an der Spitze ihres Trupps zu marschieren. Während der zweiwöchigen Ausbildung hatte sie hart gearbeitet und war zum Sergeant ernannt worden, genau wie von Lieutenant Yarrow vorhergesagt. Beata trug die Rangabzeichen auf die Schulter genäht. Marie, die Anderierin, war zum Corporal ernannt worden – als stellvertretende Befehlshaberin des Trupps. Die anderen acht hatten sich den Rang des Soldaten erworben.
Ihr einziges Verdienst, vermutete Beata, bestand in Wahrheit wohl eher darin, dass niemand Soldat werden konnte, der vor Ablauf der Ausbildung hinausgeworfen wurde. Allerdings wurde von den Neulingen nie jemand hinausgeworfen.
In der nachmittäglichen Hitze war die Uniform alles andere als bequem, aber sie gewöhnte sich allmählich daran. Alle hatten grüne Hosen an. Darüber trugen sie lange wattierte und gesteppte Uniformjacken, die an der Hüfte von einem dünnen Gürtel gerafft wurden. Über der Jacke trugen sie einen Kettenpanzer.
Da der Kettenpanzer schwer war, brauchten die Frauen nur eine ärmellose Kettenpanzerweste zu tragen. Die Männer mussten Kettenpanzer mit ebensolchen Ärmeln tragen, außerdem war der ihre länger. Darüber hinaus mussten sie eine gepanzerte Kapuze anlegen, die Kopf und Nacken bedeckte. Beim Marschieren rollten sie sie um ihren Hals. Mussten sie sie aufsetzen, trugen sie darüber einen Lederhelm. Lederhelme hatten sie alle.
Beata war froh, dass die Frauen nicht gezwungen wurden, all das übrige Zeug anzulegen. Als Sergeant musste sie den Kettenpanzer der Männer gelegentlich in die Hand nehmen, um ihn zu inspizieren. Den ganzen Tag unter einem solchem Gewicht zu marschieren für sie unvorstellbar. Ihr reichte, was sie zu schleppen hatte. Die Freude, mit einem schweren Schwert zu marschieren, war schnell abgeflaut; mittlerweile war es zu einer lästigen Dauerbelastung geworden.