Выбрать главу

Was immer die Eltern gewesen sein mochten – unabhängig und loyal gegenüber ihrem kleinen Platz in der Welt –, die Kinder waren es nicht mehr. Ein großer Prozentsatz der Truppen und des Befehlsstabes der Imperialen Ordnung waren zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Imperialen Ordnung noch kleine Kinder oder Jugendliche gewesen. Sie waren unter der Herrschaft Jagangs aufgewachsen, glaubten wie alle Kinder, was ihre Führer ihnen beibrachten, und hatten deren Werte und Sitten übernommen.

Die Schwestern des Lichts dagegen waren höheren Zielen als den Geschäften des Regierens verpflichtet. Ann hatte gewählte Regierungen, Könige und andere Herrscher kommen und gehen sehen. Der Palast der Propheten und die Schwestern, die unter demselben Bann aus grauer Vorzeit standen, der ihren Alterungsprozess dramatisch verlangsamte, hatten stets überdauert. Obgleich sie und ihre Schwestern dafür arbeiteten, der Menschen bessere Natur ans Licht zu bringen, lag ihre Berufung auf dem Gebiet der Gabe, nicht der Herrschaft.

Nichtsdestoweniger hielt sie ein Auge auf die Herrscher, damit diese nicht in das Geschenk des Schöpfers eingriffen. Jagang hatte sich kürzlich der Vernichtung aller Magie verschrieben und damit die Befugnis seiner Regierungsgeschäfte überschritten. Sein Regime hatte für Ann eine ausschlaggebende Bedeutung gewonnen. Jetzt rückte er im Bestreben, die Magie auszulöschen, in die Neue Welt vor.

Im Laufe der Jahre hatte Ann beobachtet, dass Jagang, wann immer er sich ein neues Land oder Königreich einverleibte, sich dort noch häuslich einrichtete, während er bereits begann, seine Fühler nach dem nächsten und übernächsten auszustrecken. Gewöhnlich stieß er damit auf offene Ohren und überredete die Bevölkerung in der Maske der Tugend mit verlockenden Versprechungen von saftigen Stücken der zukünftigen Beute, ihre eigenen Verteidigungsanlagen zu schwächen: um des lieben Friedens willen.

Disziplin und Verteidigungsanlagen mancher Länder waren von innen heraus bereits so ausgehöhlt, dass man Jagang dort mit offenen Armen empfing, statt zu wagen, ihm Widerstand entgegenzusetzen. Die Fundamente einiger ehemals starker Länder waren von den Termiten verminderter Entschlossenheit so zerfressen, so zerfetzt von der Dekadenz selbstgefälliger Mäßigung und so ausgemergelt vom Lavieren derer, die um jeden Preis Frieden wollten, dass sie, selbst wenn sie den Feind kommen sahen und tatsächlich Widerstand leisteten, auf den leisesten Druck der Imperialen Ordnung hin umfielen.

Wegen der unerwarteten Richtung, die die Imperiale Ordnung nach Westen einschlug, machte sich bei Ann eine gewisse Besorgnis breit, Jagang könnte das Unvorstellbare getan und Boten in geheimer Mission auf Segelschiffen um die Große Barriere entsandt haben – Jahre, bevor Richard die Türme der Verdammnis zerstört hatte. Derartige Missionen mussten unglaublich riskant gewesen sein. Ann musste es wissen, sie hatte sie selber unternommen.

Durchaus möglich, dass Jagang über Bücher mit Prophezeiungen oder Zauberer mit dieser Fähigkeit verfügte, die ihm zu der Vermutung Anlass gaben, die Barriere könnte fallen. Schließlich hatte Nathan genau dies Ann berichtet.

Wenn, dann marschierte Jagang nicht allein mit dem Ziel, zu erforschen, auszubeuten und zu erobern. Ann hatte beobachtet, wie er nach und nach die Herrschaft über die gesamte Alte Welt an sich gerissen hatte, und wusste aus Erfahrung, dass Jagang nur selten einen Weg benutzte, den er nicht zuvor verbreitert und geebnet hatte.

Ann hielt im Schatten zwischen den Soldatengruppen inne. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in verschiedene Richtungen. So schwer es ihr auch fiel, es zu glauben – sie hatte Jagangs Zelte noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Sie wollte ihn finden, weil sie sich von ihm einen wertvollen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Schwestern des Lichts erhoffte: Wahrscheinlich hatte er sie ganz in seiner Nähe untergebracht.

Sie seufzte verärgert, als sie außer weiteren Lagerfeuern und Truppen nichts erkennen konnte. Bei dieser Dunkelheit und bei dem Durcheinander im Lager der Imperialen Ordnung konnte sie ganz in der Nähe sein und Jagangs Zelte trotzdem übersehen.

Am schlimmsten war jedoch, dass ihr die Gabe nicht zur Verfügung stand. Mit der Gabe hätte sie leicht weit entfernte Gespräche belauschen, kleine Banne bewirken und diskrete Hilfen heraufbeschwören können. Ohne die Gabe empfand sie die Sucherei als enttäuschend und fruchtlos.

Sie konnte kaum glauben, den Schwestern des Lichts so nahe zu sein und sie dennoch nicht zu finden. Wäre sie nahe genug gewesen, hätte sie sie mit Hilfe der Gabe sehen können.

Doch es ging nicht nur um die Hilfe, die ihr dadurch zuteil geworden wäre. Die Gabe nicht benutzen zu können war, als würde einem die Liebe des Schöpfers verwehrt. Ihre lebenslange Aufopferung für das Werk des Schöpfers, gepaart mit der Herrlichkeit, die Magie in ihrem Innern – ihr Han, ihre Lebenskraft – berühren zu können, war stets überaus befriedigend gewesen. Nicht, dass es nie Enttäuschungen, Ängste oder Versäumnisse gegeben hätte, doch das Öffnen gegenüber ihrem Han hatte sie für jeden Versuch entschädigt.

Über neun Jahrhunderte lang war ihr Han ihr ständiger Begleiter durch das Leben gewesen. Die Unfähigkeit, ihre Gabe zu berühren, hatte sie mehr als einmal an den Rand der Tränen gebracht.

Meist aber fühlte sie sich kaum anders als zuvor – vorausgesetzt, sie dachte nicht darüber nach. Wenn ihre Gedanken sich aber darauf konzentrierten, dieses innere Licht zu berühren, und nichts geschah, kam ihr das vor, als erstickte langsam ihre Seele.

Solange sie nicht versuchte, von ihrer Gabe Gebrauch zu machen, schien sie noch immer da zu sein und zu warten, wie ein Trost spendender Freund, den man stets im Augenwinkel sieht. Doch sobald sie die Hand nach ihr ausstreckte, sich mit der ganzen Kraft ihrer Gedanken um sie bemühte, war ihr, als täte sich der Erdboden auf und als stürzte sie in einen entsetzlich schwarzen Abgrund.

Ohne ihre Gabe und ohne den Schutz des Banns, der um den Palast der Propheten gelegen hatte, unterschied sich Ann nicht von allen anderen Menschen. In Wirklichkeit war sie kaum mehr als eine Bettlerin, sondern schlicht eine alte Frau, die alterte wie alle anderen und die nicht mehr Kraft besaß als jede andere alte Frau. Ihr einziger Vorteil waren die Einsichten, das Wissen und – wie sie hoffte – die Weisheit ihres langen Lebens.

Bis Zedd die Chimären vertrieb, würde sie weitgehend hilflos sein. Bis Zedd die Chimären vertrieb. Falls Zedd die Chimären vertrieb…

Ann schlug einen falschen Weg ein – zwischen Karren hindurch, die zu dicht beieinander standen – und gelangte in einen Engpass, in dem ihr jemand entgegenkam. Sie entschuldigte sich und wollte bereits nach hinten ausweichen, denn Bettler verhielten sich stets unterwürfig, auch wenn diese Unterwürfigkeit nur geheuchelt war.

»Prälatin?«

Ann erstarrte.

»Prälatin, seid Ihr es?«

Ann hob den Kopf und sah in das erstaunte Gesicht von Schwester Georgia Cifaro. Die beiden kannten sich seit mehr als fünfhundert Jahren. Der Mund der Frau arbeitete, als sie nach Worten suchte.

Ann streckte den Arm vor und tätschelte die Hand, die einen Eimer dampfender Hafergrütze hielt. Schwester Georgia zuckte zurück.

»Schwester Georgia, dem Schöpfer sei Dank, dass ich endlich jemanden von euch gefunden habe.«

Schwester Georgia streckte vorsichtig die andere Hand aus und berührte Anns Gesicht, als wollte sie prüfen, ob es echt sei.

»Ihr seid tot«, meinte Schwester Georgia. »Ich habe an Eurer Beerdigungszeremonie teilgenommen. Ich habe gesehen, wie … Ihr und Nathan … wie Eure Leichen auf dem Scheiterhaufen ins Licht gesandt wurden. Ich habe es gesehen. Wir haben die ganze Nacht gebetet und zugesehen, wie Ihr und Nathan verbrannt seid.«

»Tatsächlich? Das war wirklich nett von dir. Du warst immer schon so besonnen, Schwester Georgia. Das sieht dir ähnlich, dass du die ganze Nacht lang Wache hältst und für mich betest. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.