Zedd öffnete den Mund und wollte eine Frage stellen, Richard wandte sich jedoch dessen ungeachtet an Ann. »Jagang drang in den Verstand eines Zauberers ein und sandte ihn aus, um Kahlan und mich zu töten – er hatte die Absicht, ihn als Meuchelmörder zu benutzen.«
»Einen Zauberer?« Ann runzelte die Stirn. »Wen denn? Welchen Zauberer?«
»Marlin Pickard«, antwortete Kahlan.
»Marlin!« Ann schüttelte seufzend den Kopf. »Der arme Junge. Was ist aus ihm geworden?«
»Die Mutter Konfessor hat ihn umgebracht«, antwortete Cara ohne Zögern. »Sie ist eine wahre Schwester des Strafers.«
Ann faltete die Hände im Schoß und beugte sich zu Kahlan hinüber. »Aber wie hast du nur herausgefunden…«
»Wir gingen davon aus, daß er etwas Ähnliches noch einmal versuchen würde«, unterbrach Richard sie, Anns Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkend. »Aber die Frage ist doch, kann ein Traumwandler in den Verstand eines … von etwas anderem als einem Menschen eindringen?«
Ann überdachte die Frage mit mehr Geduld, als sie nach Kahlans Ansicht verdiente. »Nein, ich glaube nicht.«
»Du ›glaubst nicht‹.« Richard neigte den Kopf zur Seite. »Ist das eine Vermutung, oder bist du sicher? Es ist wichtig. Bitte, stell keine Vermutungen an.«
Sie wechselte einen langen Blick mit Richard und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein, dazu ist er nicht fähig.«
»Sie hat recht«, beteuerte Zedd erneut. »Ich bin über seine Fähigkeiten gut genug unterrichtet, um zu wissen, was er nicht kann. Eine Seele ist Voraussetzung, eine Seele wie seine eigene, ansonsten funktioniert es einfach nicht. Genau wie er seinen Geist nicht in einen Felsen projizieren kann, um festzustellen, was dieser denkt.«
Richard strich sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe. »Dann ist es nicht Jagang«, murmelte er wie zu sich selbst. Zedd verdrehte verzweifelt die Augen. »Was ist nicht Jagang?« Kahlan seufzte. Richards Gedanken folgen zu wollen kam manchmal dem Versuch gleich, Ameisen mit dem Löffel einzusammeln.
6
Anstatt Zedds Frage zu beantworten, erweckte Richard wieder einmal den Eindruck, als befände er sich längst woanders.
»Die Grußformeln. Hast du dich um sie gekümmert? Angeblich handelt es sich um ein ganz einfaches Problem. Hast du dich darum gekümmert?«
»Ein einfaches Problem?« Zedds Gesicht hob sich tiefrot von seinem Schopf aus widerspenstigen weißen Haaren ab.
Die Frage schien Richard zu überraschen. »Das habe ich gelesen. Also, hast du dich um sie gekümmert?«
»Wir haben entschieden, daß es nichts gibt, um das man sich ›kümmern‹ müßte«, meinte Ann, deren Stimme einen verdrießlichen Unterton annahm.
»So ist es«, brummte Zedd. »Was soll das überhaupt heißen, ›ein einfaches Problem‹?«
»Kolo schrieb, anfangs seien sie recht beunruhigt gewesen, nach eingehender Untersuchung jedoch zu dem Schluß gekommen, daß die Grußformeln eine einfache und leicht bezwingbare Waffe seien.« Richard warf die Hände in die Luft. »Woher willst du wissen, daß das kein Problem ist? Bist du sicher?«
»Kolo? Verdammt, Richard, wovon sprichst du? Wer ist überhaupt dieser Kolo?«
Richard machte eine abwiegelnde Handbewegung, als wolle er um Geduld bitten, dann stand er auf, trat ans Fenster und hob den Vorhang an. Das Huhn war verschwunden. Er stellte sich auf die Zehen, um hinaus in den peitschenden Regen zu spähen, während Kahlan an seiner Stelle antwortete.
»Richard hat in der Burg der Zauberer ein Tagebuch gefunden. Es ist in Hoch-D’Haran verfaßt. Er und eine der Mord-Sith, Berdine, die sich ein wenig mit der toten Sprache Hoch-D’Haran auskennt, haben unermüdlich daran gearbeitet, um einen Abschnitt daraus zu übersetzen.
Der Mann, der das Tagebuch geschrieben hat, lebte während des Großen Krieges als Zauberer in dieser Burg, da sie jedoch seinen Namen nicht kannten, nannten sie ihn Koloblicin beziehungsweise einfach nur Kolo, nach dem hoch-d’haranischen Wort für ›mächtiger Berater‹. Das Tagebuch erwies sich als von unschätzbarem Wert.«
Zedd drehte sich um und sah Richard argwöhnisch an. Sein Blick wanderte zurück zu Kahlan. Der Argwohn ging auf seine Stimme über. »Und wo genau habt ihr dieses Tagebuch gefunden?«
Richard, die Fingerspitzen in tiefer Konzentration an die Stirn gelegt, begann auf und ab zu gehen. Zedd sah die beiden wartend aus seinen haselnußbraunen Augen an.
»Das war im Raum der Sliph. Unten im großen Turm.«
»Im großen Turm.« Die Art, wie Zedd die Worte wiederholte, hatte etwas Vorwurfsvolles. Er sah abermals kurz zu Richard hinüber. »Jetzt erzähl mir nicht, du meinst den Raum, der damals versiegelt wurde.«
»Genau den. Als Richard die Türme zwischen der Neuen und der Alten Welt zerstörte, um hierher zurückkehren zu können, wurde auch das Siegel dieses Raumes abgesprengt. Dort fand er das Tagebuch, Kolos Gebeine und die Sliph.«
Richard blieb neben seinem Großvater stehen. »Wir werden dir all diese Dinge später erzählen, Zedd. Im Augenblick möchte ich nur wissen, wieso du nicht glaubst, daß die in den Grußformeln genannten Chimären hier sein könnten.«
Kahlan sah stirnrunzelnd hoch zu Richard. »Hier? Was soll das heißen: hier?«
»Hier, in dieser Welt. Was macht dich so sicher, Zedd?«
Zedd deutete mit dem Finger auf den leeren Platz in ihrem Kreis rings um die Huldigung. »Setz dich hin, Richard. Dein Herumgerenne macht mich nervös. Du bist wie ein Hund, der darauf wartet, rausgelassen zu werden.«
Während Richard ein letztes Mal das Fenster überprüfte, fragte Kahlan Zedd: »Was sind diese in den Grußformeln genannten Chimären?«
»Ach«, meinte Zedd achselzuckend, »es handelt sich lediglich um ein paar ziemlich lästige Kreaturen. Aber…«
»Lästig!« Ann schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Wohl eher katastrophal!«
»Und ich habe sie herbeigerufen?« fragte Kahlan, deren Stimme einen zunehmend besorgten Unterton annahm. Sie hatte die Namen der drei in den Grußformeln Genannten laut ausgesprochen, um eine Magie zu vervollständigen, die Richard das Leben rettete. Sie hatte die Bedeutung der Worte nicht gekannt, aber gewußt, daß Richard ohne sie spätestens ein, zwei Atemzüge später gestorben wäre.
Zedd machte eine abwiegelnde Handbewegung, um ihre Befürchtungen zu beschwichtigen. »Nein, nein. Wie Ann schon sagte, können sie durchaus Ärger machen, aber…«
Richard zupfte die Hosen an den Knien an und schlug die Beine übereinander. »Zedd, bitte, beantworte meine Frage. Was macht dich so sicher, daß sie nicht hier sind?«
»Weil die Chimären aus den Grußformeln eine Dreiergruppe darstellen. Das ist zum Teil der Grund dafür, daß es überhaupt drei sind: Reechani, Sentrosi, Vasi.«
Kahlan wäre um ein Haar aufgesprungen. »Ich dachte, man darf sie nicht laut aussprechen.«
»Sollte man auch nicht. Ein ganz normaler Mensch kann sie aber ohne gefährliche Folgen benennen. Ich kann sie laut aussprechen, ohne sie herbeizurufen; Ann kann es, und Richard ebenfalls. Nicht aber so überaus seltene Menschen wie du.«
»Wieso gerade ich?«
»Weil du über eine Magie verfügst, die es dir ermöglicht, sie zugunsten eines anderen herbeizurufen. Ohne die Gabe aber, die den Schleier schützt, könnten die in den Grußformeln genannten Chimären, getragen von deiner Magie, sogar bis in diese Welt herüberwechseln. Die Namen der drei Chimären sollten eigentlich ein Geheimnis sein.«
»Dann wäre es also möglich, daß ich sie in diese Welt gerufen habe?«
»Bei den Gütigen Seelen«, meinte Richard leise. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen. »Dann könnten sie tatsächlich hier sein.«
»Nein, nein. Es gibt zahllose Schutzvorrichtungen sowie zahlreiche Bedingungen, die ebenso zwingend erforderlich wie außergewöhnlich sind.« Zedd hob einen Finger, um Richards Frage abzuwürgen, bevor sie ihm über die bereits geöffneten Lippen kam. »Unter anderem müßte Kahlan dann deine dritte Ehefrau sein.«
Zedd bedachte Richard kurz mit einem gönnerhaften Schmunzeln. »Zufrieden, Meister kenn-ich-alles-schon-aus-einem-Buch?«