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Sie machte sich Vorhaltungen; diese Frauen hatten unsägliche Misshandlungen über sich ergehen lassen müssen.

»Verschwinde«, knurrte Schwester Rochelle, die neben der Zeltöffnung hockte, ohne Ann in die Augen zu sehen. »Raus mit dir, Bettlerin.«

»Recht so, mein Kind«, meinte Ann. »Recht so, Schwester Rochelle, dass du Bettlern dein bescheidenes Heim verwehrst.«

Die Hälfte der Frauen blickten auf, als sie Anns Stimme vernahmen; große Augen starrten sie im trüben Schein der Kerze an. Einige der Frauen stießen jene an, die nicht Acht gaben, oder sie versetzten ihnen einen Klaps auf den Arm, zupften sie am Ärmel.

Manche trugen Sachen, die Ann kaum für möglich gehalten hätte. Die Kleider bedeckten sie zwar vom Hals bis zu den Knöcheln, waren dabei aber so durchsichtig, dass die Frauen praktisch nackt waren. Einige waren mit ihren eigenen Kleidern bekleidet, die sich jedoch in einem hoffnungslos erbärmlichen Zustand befanden; wieder andere hatten kaum mehr als Lumpen am Körper.

Ann lächelte. »Fionola, du siehst gut aus, bedenkt man deine schwere Prüfung. Schwester Kerena, Schwester Aubrey, Schwester Cherna, wie es scheint, bekommt ihr ein paar graue Haare. Dieses Schicksal blüht uns allen, aber euch steht es gut.«

Überall blinzelten Frauen fassungslos mit den Augen.

»Sie ist es wirklich«, meinte Schwester Georgia. »Sie lebt tatsächlich. Sie hat nicht gelogen, wie wir alle dachten. Prälatin Annalina Aldurren lebt.«

»Nun ja«, sagte Ann, »Verna ist jetzt Prälatin, aber…«

Ringsum sprangen Frauen hektisch auf. Ann fühlte sich ein wenig an Schafe erinnert, die einen Wolf den Hang herabkommen sehen. Sie machten den Eindruck, als wollten sie hinaus in die Umgebung flüchten.

Die Schwestern des Lichts waren Frauen voller Kraft, voller Standhaftigkeit, Frauen, die zweifellos über Intelligenz verfügten. Es machte Ann Angst, sich auszumalen, was geschehen sein musste, um all diese Frauen in einen derart beklagenswerten Zustand zu versetzen.

Sacht strich sie mit der Hand über einen Kopf dicht neben ihr. »Schwester Lucy, was für eine Freude, dich zu sehen.« Ann lächelte aus aufrichtiger Freude. »Das gilt für euch alle.« Sie spürte, wie ihr eine Träne die Wange hinabkullerte. »Meine lieben, lieben Schwestern, was für ein Segen, euch alle zu sehen. Ich danke dem Schöpfer, dass er mich zu euch geführt hat.«

Und dann fielen sie alle auf die Knie, um sich vor ihr zu verneigen, den Schöpfer in leisen Gebeten zu bitten, er möge sie beschützen, und um ungläubig zu weinen.

»Aber ich bitte euch, nicht das«, sagte Ann, Schwester Lucy die Tränen aus dem Gesicht wischend. »Das nicht. Wir haben wichtige Dinge zu erledigen und keine Zeit, uns richtig auszuweinen. Nicht, dass ich damit sagen wollte, wir hätten nicht alle ein gutes Recht darauf. Später wäre eine ausgezeichnete Zeit dafür, im Augenblick dagegen nicht.«

Die Schwestern küssten den Saum ihres Kleides. Immer mehr rutschten auf den Knien nach vorn, um ihrem Beispiel zu folgen. Sie waren die Verlorenen, die man jetzt wieder gefunden hatte. Ann brach es fast das Herz.

Sie setzte ihr bestes Prälatinnenlächeln auf und verwöhnte sie, berührte jede am Kopf, segnete jede Einzelne von ihnen mit Namen und dankte dem Schöpfer laut für jedes Leben, das er verschont, für jede Seele, die er behütet hatte. Es wurde zu einer unzeremoniellen, aber feierlichen Audienz bei der Prälatin der Schwestern des Lichts.

Sie hielt es nicht für den geeigneten Zeitpunkt, darauf zu beharren, sie sei nicht mehr Prälatin und habe das Amt zur sicheren Verwahrung Verna übertragen. In diesem Augenblick der Freude war das einfach nicht wichtig.

Ann ließ die Wiedervereinigung nur wenige Minuten dauern, bevor sie ihr abrupt ein Ende machte.

»Hört mir jetzt bitte zu, und zwar alle. Still. Später werden wir noch mehr als genug Zeit haben, uns alle zusammen über unser Wiedersehen zu freuen. Zuerst jedoch muss ich euch sagen, weshalb ich hergekommen bin.

Etwas Fürchterliches ist geschehen, doch wisst ihr besser als alle anderen, dass es für alle Dinge einen Ausgleich geben muss. Dieser Ausgleich besteht darin, dass dieses entsetzliche Ereignis euch nach dem Willen des Schöpfers die Flucht ermöglichen wird.«

»Die Prälatin behauptet, die Chimären seien auf freiem Fuß«, warf Schwester Georgia ein. Ein Stöhnen ging durchs Zelt. »Sie ist fest davon überzeugt.«

Aus der Bemerkung ging offenkundig hervor, dass Schwester Georgia keinesfalls davon überzeugt war, es ihrer Meinung nach völlig ausgeschlossen war und man schon ein Narr sein musste, um so etwas zu glauben.

»Jetzt hört mir zu, und zwar alle.« Ann senkte die Brauen zu einem Blick, den jede der Schwestern im Innern des Zeltes so gut kannte, dass er ihnen den Schweiß auf die Stirn trieb. »Ihr erinnert euch alle noch an Richard?« Nicken überall. »Nun, es ist eine lange Geschichte. Jedenfalls löste Jagang eine Pestepidemie aus, der Tausende von Menschen zum Opfer fielen. Unzählige Menschen starben eines grauenhaften Todes. Eine unermesslich große Zahl von Kindern ging elendiglich zugrunde, eine unermesslich große Zahl von Kindern blieb als Waisen zurück.

Schwester Amelia…«

»Sie hat sich dem Hüter verschworen!«, stießen mehrere Schwestern im Hintergrund hervor.

»Ich weiß«, erwiderte Ann. »Sie war es, die in die Unterwelt ging. Sie brachte Jagang die Pest von dort mit. Sie hat so viele unschuldige Menschen ermordet…

Richard konnte die Pest mit Hilfe seiner Kraft stoppen.«

Ringsum sah man erstaunte Blicke, unterlegt von Getuschel. Ann nahm an, dass sie ihnen womöglich viel zu viel auf einmal zumutete, andererseits mussten ihre Erklärungen ausführlich genug sein, damit sie verstanden, was auf dem Spiel stand.

»Richard erkrankte an der Pest, und die Mutter Konfessor rettete ihm mit Hilfe von Magie das Leben. Nathan konnte fliehen.« Abermals ging ein Aufstöhnen durchs Zelt. Ann brachte sie zum Schweigen, damit sie nicht in Wehklagen verfielen. »Um Richard das Leben zu retten, verriet Nathan der Mutter Konfessor die Namen der in den Grußformeln genannten Chimären. Es war eine entsetzliche Entscheidung, die er zu treffen hatte, aber glaubt mir, er hat es ausschließlich getan, um Richard zu retten. Die Mutter Konfessor sprach die Namen der drei Chimären laut aus und vollendete damit den Bann, der Richard das Leben rettete.

Die Chimären sind unter uns. Sie hat sie in diese Welt gerufen. Ich weiß dies aus eigener Anschauung. Ich habe sie gesehen, und ich habe gesehen, wie sie töten.«

Diesmal widersprach niemand. Selbst Schwester Georgia schien überzeugt. Ann fühlte sich in ihrem Beschluss bestätigt, ihnen das alles zu erzählen.

»Wie ihr alle wisst, kann die Freiheit der Chimären noch nie dagewesene Umwälzungen mit sich bringen; diese haben bereits eingesetzt. Die Magie versiegt, unser aller Magie wird so weit reduziert, dass sie nutzlos wird. Unterdessen wird jedoch auch Jagangs Magie nutzlos werden. Solange dieser Zustand währt, können wir euch alle von hier fortschaffen.«

»Aber welche Rolle spielen dabei die Chimären?«, fragte jemand.

Ann atmete nachsichtig durch. »Solange die Chimären unter uns weilen, versiegt die Magie. Das bedeutet, Jagangs Magie als Traumwandler ist ebenso im Schwinden begriffen wie unsere Gabe. Euer Verstand ist vom Traumwandler befreit.«

Schwester Georgia starrte einen Augenblick lang ungläubig vor sich hin. »Aber was ist, wenn die Chimären in die Unterwelt zurückkehren? Das kann jederzeit völlig unerwartet geschehen. Dann wäre Jagang wieder in unseren Köpfen. Man merkt nicht, wenn er da ist, Prälatin. Das ist unmöglich.

Vielleicht sind die Chimären bereits wieder in die Welt der Toten zurückgeflohen. Möglicherweise ist es ihnen nicht gelungen, eine Seele zu bekommen. Möglicherweise sind sie in den Schutz des Unaussprechlichen geflohen. Der Traumwandler könnte sich bereits wieder in meinem Kopf befinden und mich beobachten, während wir hier miteinander sprechen.«