Ann packte die Frau bei den Armen. »Nein, könnte er nicht. Meine Magie ist versiegt, deine ist ebenfalls erloschen, wir alle haben unsere Gabe verloren. Ich werde es spüren, wenn sie zurückkehrt – jede von uns wird es spüren. Im Augenblick ist sie verschwunden – genau wie der Traumwandler.«
»Aber ohne Erlaubnis dürfen wir unsere Gabe nicht benutzen«, meinte eine Schwester rechts von ihr. »Außerdem würden wir gar nicht merken, wenn unsere Gabe zurückkehrt, um festzustellen, ob die Chimären aus dieser Welt geflohen sind.«
»Ich werde es sofort merken«, wiederholte Ann. »Jagang wird mich nicht daran hindern, mein Han zu berühren, wenn ich kann.«
Schwester Kerena trat vor. »Aber wenn die Chimären zurückgehen, wird seine Exzellenz zurückkehren und uns…«
»Nein. Hört zu. Es gibt eine Möglichkeit, den Traumwandler daran zu hindern, jemals wieder in euren Verstand einzudringen.«
»Das ist unmöglich.« Schwester Chernas Augen wanderten nervös umher, als verberge Jagang sich in den Schatten und beobachtete sie. »Ihr müsst fort von hier, Prälatin. Man wird Euch ganz sicher fassen. Womöglich hat Euch jemand gesehen. Dieser Jemand könnte Jagang Bescheid geben, während wir hier miteinander sprechen.«
»Geht bitte fort«, meinte auch Schwester Fionola. »Wir sind verloren. Vergesst uns und geht fort. Euer Hiersein kann kein gutes Ende nehmen.«
Ann riss ein weiteres Mal der Geduldsfaden. »So hört mir doch zu! Es ist sehr wohl möglich, sich dagegen zu schützen, dass der Traumwandler in euren Verstand eindringt. Wir können uns alle aus seinem bösen Griff befreien.«
Schwester Georgia kamen erneut Zweifel. »Aber ich wüsste nicht, wie…«
»Was meint ihr, wie es kommt, dass er nicht in meinen Verstand eindringt? Glaubt ihr vielleicht, er will mich nicht? Würde er mich nicht überwältigen, wenn er dazu in der Lage wäre?«
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen.
»Nun, ich denke schon.« Schwester Aubrey runzelte die Stirn. »Und woran liegt es nun, dass er von Euch nicht ebenfalls Besitz ergreift?«
»Ich stehe unter einem Schutz, das versuche ich euch doch die ganze Zeit zu erklären. Richard ist ein Kriegszauberer. Ihr wisst alle, was das bedeutet: Er verfügt über beide Seiten der Gabe.«
Die Schwestern blinzelten erstaunt und begannen untereinander zu tuscheln.
»Darüber hinaus«, fuhr Ann fort, die dicht gedrängten Frauen im überfüllten Zelt zum Schweigen bringend, »ist er ein Rahl.«
»Was spielt das für eine Rolle?«, wollte Schwester Fionola wissen.
»Die Traumwandler stammen aus der Zeit des Großen Krieges. Ein Zauberer aus jener Zeit, ein Kriegszauberer mit Namen Rahl, einer von Richards Vorfahren, beschwor die Bande herauf, um sein Volk vor ihnen zu schützen. Mit der Gabe gesegnete Abkömmlinge des Hauses Rahl werden mit den Banden zu ihrem Volk geboren, die es vor den Traumwandlern beschützen.
Alle Menschen in Richards Land sind ihm als ihrem Lord Rahl über diese Bande verbunden. Aus diesem Grund und weil deren Magie auf ihn übergegangen ist, sind sie alle vor dem Traumwandler geschützt. Sie verhindern, dass Jagang in ihren Verstand eindringt. Kein Traumwandler kann in den Verstand eines Menschen eindringen, der dem Lord Rahl über die Bande verbunden ist.«
»Aber wir gehören doch gar nicht zu seinem Volk«, wandten einige der Frauen ein.
Ann hob eine Hand. »Das spielt keine Rolle. Ihr braucht Richard lediglich die Treue zu schwören – und zwar ernsthaft, von Herzen kommend –, dann seid ihr vor dem Traumwandler sicher.«
Ihr ausgestreckter Finger zog vor ihren Augen vorbei. »Ich habe Richard schon sehr lange die Treue geschworen. Er führt uns an in unserem Kampf gegen dieses Ungeheuer Jagang, der der Magie in dieser Welt ein Ende machen will. Mein Glaube an Richard, meine Bande zu ihm sowie die Tatsache, dass ich ihm von ganzem Herzen verschworen bin, beschützt mich vor einem Eindringen Jagangs in meinen Verstand.«
»Aber wenn es stimmt, was Ihr über die Chimären erzählt, dass sie sich hier in dieser Welt befinden«, meinte eine Schwester in weinerlichem Tonfall aus dem Hintergrund, »dann wird die Magie der Bande ebenfalls versiegen, und wir wären nicht mehr durch sie geschützt.«
Ann seufzte. Sie ermahnte sich, nachsichtig zu bedenken, dass diese Frauen seit langem in den brutalen Händen des Feindes waren.
»Aber beides hebt sich doch gegenseitig auf, begreift Ihr denn nicht?«
Ann bewegte ihre nach oben gedrehten Handflächen wie Waagschalen auf und ab. »Solange die Chimären unter uns weilen, funktioniert Jagangs Magie nicht, und er kann nicht in euren Verstand eindringen.« Sie bewegte ihre Handflächen in die entgegengesetzte Richtung. »Sind die Chimären vertrieben und seid ihr Richard verschworen, dann verhindern diese Bande, dass Jagang in euren Verstand eindringt. Entweder das eine beschützt euch oder das andere.
Versteht ihr jetzt? Ihr braucht nichts weiter zu tun, als einen Eid auf Richard zu leisten, der die Führung im Kampf gegen Jagang übernommen hat und der für unsere Sache kämpft – die Sache des Lichts –, dann müsst ihr nie wieder fürchten, der Traumwandler könnte sich Zugang zu euch verschaffen.
Wir können fliehen, Schwestern, heute Abend noch. Sofort. Versteht ihr jetzt endlich? Ihr seid frei.«
Alle starrten sie sprachlos an. Schließlich ergriff Schwester Rochelle das Wort. »Aber wir sind nicht vollzählig.«
Ann sah sich um. »Wo sind die Übrigen? Wir werden sie zusammensuchen und dann von hier verschwinden. Wo sind sie?«
Abermals suchten die Frauen Zuflucht in verängstigtem Schweigen. Ann forderte Schwester Rochelle mit einem Fingerschnippen auf zu antworten. Schließlich redete die Frau weiter.
»In den Zelten.«
Alle Frauen im Zelt schlugen die Augen nieder. Die goldenen Ringe in ihren Unterlippen funkelten im Schein der Kerze.
»Was soll das heißen, in den Zelten?«
Schwester Rochelle räusperte sich, bemüht, die mit Macht hervorschießenden Tränen zu unterdrücken.
»Wenn eine von uns sein Missfallen erregt, er böse auf uns ist, er uns bestrafen möchte oder ihm einfach nur nach Grausamkeit zumute ist, dann schickt Jagang uns in die Zelte. Die Soldaten missbrauchen uns. Sie reichen uns herum.«
Schwester Cherna ließ sich weinend zu Boden fallen. »Wir müssen diesen Männern als Huren dienen.«
Ann nahm ihre ganze Entschlossenheit zusammen. »Hört mir zu, ihr alle. Damit ist sofort Schluss. Von diesem Augenblick an seid ihr frei. Ihr seid wieder Schwestern des Lichts. Habt ihr mich verstanden? Ihr seid nicht länger seine Sklavinnen!«
»Aber was wird aus den anderen?«, wollte Schwester Rochelle wissen.
»Könnt ihr sie herbringen?«
Schwester Georgia reckte sich zu voller Größe empor. »Ihr wartet hier, Prälatin. Die Schwestern Rochelle, Aubrey und Kerena werden mich begleiten. Wir werden sehen, was wir tun können.« Sie bedachte die drei mit einem Blick. »Nicht wahr? Wir wissen, was wir zu tun haben.«
Die drei nickten. Schwester Kerena schob Ann eine Hand unter den Arm.
»Ihr wartet hier. Das werdet Ihr doch? Ihr wartet hier, bis wir zurück sind.«
»Ja, in Ordnung«, sagte Ann. »Aber ihr müsst euch beeilen. Wir müssen von hier fliehen, bevor die Nacht zu weit fortgeschritten ist, sonst erregen wir Verdacht, wenn wir durch das Lager ziehen, während alle anderen schlafen. Wir dürfen nicht warten bis…«
»Wartet Ihr nur«, meinte Schwester Rochelle mit ruhiger Stimme. »Wir werden uns um alles kümmern. Es wird sich alles fügen.«
Die Schwestern nickten; Ann stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Wenn ihr zu lange fortbleibt, werden wir ohne euch aufbrechen müssen. Habt ihr verstanden? Wir dürfen auf keinen Fall…«
Schwester Rochelle legte Ann eine Hand auf die Schulter. »Wir werden rechtzeitig zurück sein. Wartet nur.«