Ann seufzte. »Möge der Schöpfer mit euch sein.«
Ann kauerte inmitten der Schwestern, die sich wieder in die Abgeschiedenheit ihrer eigenen Gedankenwelt zurückzuziehen schienen. Ihre anfänglich so überschwängliche Freude über ihr Erscheinen war abgeklungen. Sie wirkten wieder abweisend und teilnahmslos.
Ohne zuzuhören starrten sie vor sich hin, während Ann versuchte, ihnen einige der erfreulicheren Episoden ihrer Abenteuer zu erzählen. Amüsiert in sich hineinlachend hoffte sie, mit der Wiedergabe beschwerlicher Augenblicke ihr Interesse zu wecken oder wenigstens eine von ihnen zum Schmunzeln zu bringen. Vergeblich.
Keine der Schwestern stellte eine Frage oder erweckte auch nur den Eindruck, als höre sie ihr zu. Sie vermieden es sogar, ihr in die Augen zu sehen. In der Falle sitzenden Tieren gleich, kannten sie kein anderes Verlangen, als diesem Grauen zu entkommen.
Ann wurde mit jeder Minute unbehaglicher zumute. Hier, inmitten dieser Frauen sitzend, die sie so gut kannte, spürte sie mit jeder Minute deutlicher, wie sich ihr bei der Vorstellung, sie könnte sie vielleicht doch nicht ganz so gut kennen, wie sie geglaubt hatte, die Nackenhaare zu sträuben begannen.
Manchmal waren in der Falle sitzende Tiere zu verunsichert, das offene Gatter zu finden.
Als die Zeltöffnung zurückgeschlagen wurde, rückten sie schnell von ihr ab. Ann erhob sich.
Vier hünenhafte Männer traten geduckt ins Innere des Zeltes, verborgen unter einer Schicht aus Lederplatten, Gürteln, Riemen, über die Schultern gelegten Fellen und an den Gürteln baumelnden Waffen, und gefolgt von den Schwestern Georgia, Rochelle, Aubrey und Kerena. Die strähnigen, fettigen Mähnen der Männer peitschten von einer Seite auf die andere, als sie sich nach allen Seiten umsahen. Ihrem Auftreten nach schienen sie Ann Männer mit mehr Machtbefugnis zu sein als einfache Soldaten.
Schwester Rochelle zeigte in ihre Richtung. »Das ist sie. Die Prälatin der Schwestern des Lichts.«
»Rochelle«, knurrte Ann, »was hat das zu bedeuten? Was denkst du dir…«
Der Mann, der offenbar das Kommando führte, fasste sie am Kiefer und drehte, sie einer genauen Prüfung unterziehend, ihren Kopf erst nach links und dann nach rechts. »Ganz sicher?« Sein finsterer Blick wanderte zu Schwester Rochelle. »In meinen Augen sieht sie aus wie all die anderen Bettlerinnen auch.«
Schwester Georgia deutete ebenfalls auf Ann. »Wenn ich es Euch doch sage, sie ist es.« Die Augen des Mannes wandten sich Schwester Georgia zu, als diese fortfuhr: »Sie hat sich bloß so zurechtgemacht, um sich hier einschmuggeln zu können.«
Der Mann winkte die anderen Soldaten nach vorn. Sie brachten Handschellen und Ketten. Ann versuchte sich gegen sie zu sträuben, sich loszuwinden, doch die Soldaten hielten sie gleichgültig fest, packten ihre Handgelenke und zogen sie nach vorn, damit ein anderer Soldat ihr die Handschellen anlegen konnte.
Zwei von ihnen drückten sie gewaltsam auf den Boden, während ein anderer einen Amboss absetzte. Sie fixierten die Ösen der Handschellen auf dem Amboss, schlugen Nieten hindurch und hämmerten deren Köpfe flach, wodurch die Handschellen dauerhaft verriegelt wurden. Sie schlossen sie zu fest, sodass sie ihr ins Fleisch einschnitten. Ann war klug genug, keinen Widerstand zu leisten, wenn dieser sinnlos war; daher zwang sie sich, vollkommen ruhig zu werden. Ohne ihr Han war sie gegen diese kräftigen Männer so machtlos wie ein kleines Kind. Der größte Teil der Schwestern hatte sich so weit entfernt wie möglich verkrochen. Keine von ihnen sah hin.
Die Männer schlossen die offenen Glieder am Ende der Kette mit ein paar Hammerschlägen. Ann entfuhr ein Stöhnen, als sie derb, mit dem Gesicht nach vorn, in den Staub gestoßen wurde. An ihren Knöcheln befestigte man ebenfalls Fesseln. Weitere Ketten wurden angebracht. Dann hoben große Hände sie hoch. Eine Kette um ihre Hüfte verband die anderen miteinander.
Ann konnte nicht einmal mehr eine Hand zum Mund führen.
Einer der Männer kratzte sich den dichten Bart. »Und sie hatte niemanden bei sich?«
Die Schwestern Georgia und Rochelle schüttelten den Kopf.
Das schien ihn zu amüsieren. »Wie hat sie es bloß bis zur Prälatin gebracht, wenn sie so dämlich ist?«
Schwester Georgia machte, ohne ihm in die Augen zu sehen, einen Knicks. »Das wissen wir nicht, Sir. Auf jeden Fall ist sie es.«
Er zuckte mit den Achseln und wollte bereits gehen, hielt dann aber inne und richtete seinen Blick auf die zitternden Frauen auf dem Boden. Mit seinem fleischigen Finger deutete er auf eine der Schwestern in den grotesk durchsichtigen Kleidern.
»Du.«
Schwester Theola zuckte zusammen. Sie schloss die Augen. Ann sah, wie sich ihre Lippen in einem vergeblichen Gebet an den Schöpfer bewegten.
»Komm mit«, befahl der Mann.
Schwester Theola erhob sich, am ganzen Körper zitternd. Die anderen drei Männer bekundeten ihre Anerkennung für die Wahl ihres Anführers mit einem Feixen, während sie sie vor sich her nach draußen stießen.
»Ihr habt versprochen, das nicht zu tun«, beschwerte sich Schwester Georgia, wenn auch demütig.
»Hab ich das?«, fragte der Mann. Er bedachte sie mit einem boshaften Grinsen. »Ich hab’s mir eben anders überlegt.«
»Lasst mich an ihrer Stelle gehen!«, rief Schwester Georgia, als der Mann sich zum Gehen wandte.
Er drehte sich um. »Sieh an, sieh an. Welch edle Gesinnung.« Er packte Schwester Georgia am Handgelenk und zerrte sie mit sich durch die Zeltöffnung nach draußen. »Da du es offenbar kaum erwarten kannst, darfst du sie begleiten.«
Als die Männer mit den beiden Frauen abgezogen waren, senkte sich eine entsetzliche Stille über das Zelt. Keine der Schwestern traute sich, Ann anzusehen, die in Ketten gefesselt dahockte.
»Warum?« Ann hatte das Wort leise gesprochen, und doch hallte es durch das Zelt wie die mächtige Glocke über dem Palast der Propheten. Mehrere Schwestern verzagten, als sie dieses eine Wort vernahmen. Andere fingen an zu weinen.
»Wir sind nicht so dumm, einen Fluchtversuch zu riskieren«, meinte endlich Schwester Rochelle. »Anfangs haben wir es alle versucht. Das haben wir wirklich, Prälatin. Einige von uns sind dabei ums Leben gekommen. Es war ein langer, qualvoller Tod.«
»Seine Exzellenz hat uns gezeigt, wie vergeblich ein Fluchtversuch ist. Jemandem zur Flucht zu verhelfen ist ein schweres Verbrechen. Keine von uns möchte diese Lektion noch einmal erteilt bekommen.«
»Aber ihr hättet frei sein können!«
»Das wissen wir besser«, meinte Schwester Rochelle. »Wir können niemals frei sein. Wir gehören seiner Exzellenz.«
»Anfangs als Opfer«, erwiderte Ann, »aber jetzt aus eigenem Entschluss. Ich habe mein Leben bereitwillig für eure Freiheit aufs Spiel gesetzt. Ihr hattet die Wahl und habt beschlossen, lieber Sklavinnen zu bleiben, als die Freiheit zu gewinnen.
Schlimmer noch, ihr habt mich alle angelogen. Ihr habt im Dienst des Bösen die Unwahrheit gesagt.« Die Frauen verbargen ihre Gesichter, als Ann sie mit einem alles verdorrenden Blick bedachte. »Außerdem weiß jede Einzelne von euch, was ich von Lügnern halte – und wie der Schöpfer über jene denkt, die in der Absicht lügen, sich seinem Willen zu widersetzen.«
»Aber Prälatin…«, greinte Schwester Cherna.
»Sei still! Ich will deine Ausflüchte nicht hören. Ich brauche mir das nicht länger anzuhören, dieses Recht habt ihr verwirkt. Sollte ich je wieder aus diesen Fesseln befreit werden, dann, um denen zu helfen, die dem Licht dienen. Ihr seid keinen Deut besser als die Schwestern der Finsternis. Wenigstens haben sie den Anstand, ihren widerwärtigen Herrn und Meister nicht zu verleugnen.«
Ann verstummte, als ein Mann durch die Öffnung ins Zelt trat.
Er war von durchschnittlicher Größe und stämmig, mit mächtigen Armen und breiter Brust. Seine Fellweste hing offen, sodass man Dutzende juwelenbesetzter Goldketten von seinem Stiernacken herabhängen sah. An jedem Finger trug er einen Ring, der eines Königs würdig war.
Lichtpunkte der Kerzen spiegelten sich auf seinem kahlrasierten Schädel. Eine dünne Goldkette verband den goldenen Ring in seinem linken Nasenflügel mit einem anderen in seinem linken Ohr. Die langen, geflochtenen Enden seines Schnauzers reichten bis über sein Kinn hinab und entsprachen in ihrer Länge genau dem Zopf mitten unter seiner Unterlippe.