»Hier hatte der Fanatismus einen Namen: Serin Rajak. Er entspricht genau dem Typ: gewalttätig und rachsüchtig. Er versteht sich sehr geschickt darauf, seine Wahnvorstellungen in Worte zu kleiden, mit denen er die Emotionen anderer hochpeitscht und sie in seine niederträchtigen Machenschaften hineinzieht.«
»Seine Vorstellung, die Welt von allem Übel zu befreien, bestand also darin, Euch zu töten?«
»Mich und meinesgleichen.«
Sie zog das Halsband kurz herunter, bis man die Narbe sehen konnte.
»Er legte mir einen Strick um den Hals, dann gingen er und seine Kumpane daran, ein Feuer unter mir anzurichten. Er zündelt gern. Seiner Ansicht nach reinigt das die Welt von der Magie eines Menschen – und verhindert, dass sie nach seinem Tod zurückbleibt.«
Zedd seufzte. »Es wird nie ein Ende haben. Aber wie ich sehe, konntet Ihr ihn überzeugen, Euch in Ruhe zu lassen.«
Sie musste lächeln. »Hat ihn ein Auge gekostet, was er mir damals angetan hat.«
»Ich muss sagen, ich kann Euch keinen Vorwurf machen.«
»Das ist lange her.«
Zedd wollte das Thema wechseln. »Ich nehme an, Ihr habt vom Krieg mit der Alten Welt gehört?«
»Natürlich. Wir hatten Abgesandte der Imperialen Ordnung hier bei uns, die die Angelegenheit mit unserem Volk besprechen wollten.«
Zedd richtete sich auf. »Was? Die Imperiale Ordnung hat Leute hier?«
»Das erkläre ich Euch doch gerade. Gewisse Personen aus der Regierung hören sehr genau auf das, was die Imperiale Ordnung zu sagen hat. Ich fürchte, die Imperiale Ordnung versucht, hohe Beamte zu bestechen. Und das bereits seit geraumer Zeit.«
Sie beobachtete ihn über den Rand ihrer Tasse, während sie einen Schluck trank. Sie schien sich dazu durchzuringen, ihm noch mehr zu erzählen.
»Einige Leute hier spielen schon seit längerem mit dem Gedanken, der Mutter Konfessor eine geheime Benachrichtigung zu schicken, damit sie herkommt und eine Untersuchung vornimmt.«
»Jetzt, da die Chimären auf freiem Fuß sind, wird sie ihre Kraft verloren haben, genau wie Ihr und ich. Bis die Chimären vertrieben sind, wird sie uns in einer solchen Angelegenheit kaum helfen können.«
Franca seufzte. »Ja, ich verstehe, was Ihr meint. Das Beste wäre, wir könnten selbst dafür sorgen, dass die Chimären vertrieben werden.«
»In der Zwischenzeit sollte sich vielleicht jemand von hier der Sache annehmen.«
Sie setzte ihre Tasse ab. »Wer soll denn das Büro des Ministers für Kultur befragen?«
»Die Direktoren«, schlug Zedd vor.
Sie ließ ihre Tasse ein ums andere Mal auf der Tischplatte kreisen. »Vielleicht.« Mehr sagte sie nicht dazu.
Als Zedd daraufhin nichts erwiderte, versuchte sie das Schweigen zu brechen. »In Anderith tut man, was man tun muss, um sich durchzuschlagen.«
»Manchen Menschen gelingt das überall.« Zedd lehnte sich lässig zurück. »Am Ende wird es ohnehin keine Rolle spielen. Anderith wird sich Richard und dem neuen d’Haranischen Reich ergeben müssen, das er im Begriff ist zu vereinigen, um der Imperialen Ordnung Widerstand zu leisten.«
Zedd trank noch einen Schluck. »Erwähnte ich schon, dass er obendrein ein Sucher der Wahrheit ist?«
Franca sah auf. »Nein, das muss Euch wohl entfallen sein.«
»Richard wird nicht zulassen, dass Anderith sich weiter so verhält, wie es dies im Augenblick zu tun scheint – mit seinen korrupten Beamten, die mit der Imperialen Ordnung unter einer Decke stecken. Er und die Mutter Konfessor werden diesen hinterhältigen Intrigen ein Ende machen. Das ist einer der Gründe, weshalb er gezwungen war, die Macht an sich zu reißen. Es ist seine Absicht, die Herrschaft mit Hilfe von gerechten und allgemein gültigen Gesetzen zu festigen.«
»Gerechte Gesetze«, meinte sie verträumt, als sei dies der Wunsch eines kleinen Kindes. »Wir sind ein reiches Land, Zedd. Anderier müssten eigentlich ein gutes Leben führen können. Wenn es Hakenier wären, die der Imperialen Ordnung Gehör schenkten, könnte ich das noch verstehen. Man könnte sagen, sie hätten einen guten Grund. Aber es sind die Anderier, die ihnen zuhören, und die sind bereits im Besitz der Macht.«
Zedd blickte nachdenklich in seinen Tee. »Nichts reizt Menschen mehr als die Freiheit anderer. Ganz so, wie dieser Serin Rajak alle hasst, die Magie besitzen, verachtet die herrschende Elite – oder wer sich dafür hält – die Freiheit. Ihr einziges Vergnügen besteht darin, das Elend zu erhalten.«
Zedd war bemüht, dem unangenehmen Thema ein wenig von seiner Schwere zu nehmen. »Und Ihr, Franca, habt Ihr einen Ehemann, oder haben die gut aussehenden Männer dieser Welt noch eine Chance, Euch den Hof zu machen?«
Franca lächelte eine Weile bei sich, bevor sie antwortete. »Mein Herz ist vergeben…«
Zedd beugte sich über den Tisch und tätschelte ihr die Hand. »Wie schön für Euch.«
Sie schüttelte den Kopf, während ihr Lächeln auf gespenstische Weise erlosch. »Nein, er ist verheiratet. Meine Gefühle dürfen auf keinen Fall öffentlich bekannt werden. Ich würde mich für immer hassen, wenn ich ihm einen Grund gäbe, seine wunderschöne Braut zu verlassen und sich stattdessen mit einer alternden Jungfer wie mir einzulassen. Er darf nicht einmal ahnen, was ich für ihm empfinde.«
»Das tut mir Leid, Franca«, sagte er zärtlich, voller Mitgefühl. »Das Leben – oder sollte ich sagen, die Liebe – erscheint manchmal so ungerecht. Zumindest im Augenblick, eines Tages jedoch…«
Franca tat die Angelegenheit mit einer Handbewegung ab – mehr ihret- als seinetwegen, wie er fand. Sie sah ihm wieder in die Augen.
»Es schmeichelt mir, Zedd, dass Ihr zu mir kommt – dass Ihr Euch überhaupt an meinen Namen erinnert –, aber wie kommt Ihr darauf, ich könnte Euch helfen? Eure Kraft ist größer als meine. Zumindest war das früher so.«
»Um ganz ehrlich zu sein, ich bin nicht gekommen, um Euch so um Hilfe zu bitten, wie Ihr Euch dies vielleicht vorstellt. Ich kam her, weil ich als junger Zauberer gelernt habe, dass dies der Ort ist, an dem die Chimären bestattet wurden – in Toscia, oder Anderith, wie es jetzt genannt wird.«
»Tatsächlich? Das wusste ich gar nicht. Wo in Anderith liegen sie begraben?«
Zedd breitete die Hände aus. »Ich hatte gehofft, das wüsstet Ihr. Euer Name war der einzige, den ich hier kannte, also bin ich gekommen und habe Euch aufgesucht. Ich brauchte eben dringend Hilfe.«
»Tut mir Leid, Zedd, aber ich hatte keine Ahnung, dass die Chimären hier begraben liegen.« Sie nahm ihre Tasse wieder zur Hand und nippte nachdenklich daran. »Aber wenn die Chimären, wie Ihr sagt, sich der Seele Eures Enkelsohnes nicht bemächtigen können, dann könnte es doch sein, dass sie irgendwann in die Welt der Toten zurückgezogen werden. Vielleicht brauchen wir gar nichts weiter zu tun. Das ganze Problem könnte sich in Luft auflösen.«
»Ja, diese Hoffnung besteht durchaus, Ihr müsst jedoch das Wesen der Unterwelt bedenken.«
»Und das heißt?«
Zedd trommelte auf den äußeren Kreis der in die Tischplatte eingelegten Huldigung. »Hier, wo das Leben die Grenze überschreitet, fängt die Unterwelt an.« Seine Hand glitt über die Tischkante hinaus. »Dahinter beginnt die Ewigkeit.«
»Da die Unterwelt ewig ist, hat Zeit dort keinerlei Bedeutung. Es mag, wenn wir diese Grenze überschreiten, so etwas wie einen Anfang geben, aber ein Ende existiert nicht, daher löst sich die Vorstellung von Zeit an diesem Punkt auf. Sie ist allein hier, in der Welt des Lebendigen, wo die Zeit durch Anfang und Ende definiert ist und somit einige Bezugspunkte erhält, von Bedeutung.
Die Chimären wurden aus diesem zeitlosen Jenseits heraufbeschworen, von dort erhalten sie ihre Kraft. Demzufolge ist Zeit für sie bedeutungslos.
Vielleicht ist es wahr, dass sie wieder in die Unterwelt zurückgeholt werden, wenn sie sich die Seele, zu deren Hilfe sie die Grenze überschritten haben, nicht verschaffen können. Möglicherweise bedeutet diesen zeitlosen Wesen ihr Aufenthalt hier nicht mehr als nur ein Augenblick; sie warten ab, ob sie Erfolg haben, oder sie erlauben sich einen kleinen Scherz und überziehen alles mit Tod und Zerstörung; nur kann dieser eine Augenblick für sie ein ganzes Jahrtausend für diese Welt bedeuten. Er könnte zehn Jahrtausende bedeuten und wäre für sie immer noch nicht mehr als bloß ein Augenzwinkern – umso mehr, da sie keine Seele besitzen und gar nicht wissen können, was Leben bedeutet.«